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Europa: Gesundheitsdaten für die Forschung

Die Gesundheitsdatennutzung durch die Forschung wird eines der E-Health-Themen sein, mit denen sich eine neue Bundesregierung auseinandersetzen muss. Ein Blick in fünf europäische Nachbarländer kann für Deutschland wichtige Orientierungspunkte setzen.

Quelle: © fotomek – stock.adobe.com

D eutschland hinkt bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens hinterher. Zu diesem Ergebnis kam 2018 bereits die internationale Vergleichsstudie #SmartHealthSystems der Bertelsmann Stiftung1, aber auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen in seinem aktuellsten Gutachten aus 20212. Umso wichtiger ist es, dass dieser Missstand durch die derzeitige Bundesregierung erkannt wurde und rechtliche Vorhaben angestoßen wurden, um ein Aufholen in den kommenden Jahren zu gewährleisten. Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG), dem Patientendaten-Schutz-Gesetz (PDSG) sowie dem Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierung-Gesetz (DVPMG) gab es unter Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gleich drei große Digitalgesetze. In diesen Gesetzen wurde unter anderem die rechtliche Grundlage geschaffen, Gesundheitsdaten zukünftig für die Forschung verfügbar zu machen und somit per­spektivisch für eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung zu sorgen.


Damit das gelingt, braucht es eine effiziente Datennutzung durch alle relevanten Akteur:innen bei gleichzeitiger Wahrung der Patientenrechte sowie der Einhaltung ethischer Grundsätze. Die deutsche Diskussion wird dabei häufig durch mögliche Risiken dominiert (z. B. Datenmissbrauch), wohingegen zu selten auf die sich daraus ergebenden Chancen geachtet wird. Ein Blick ins europäische Umland – so war unsere Hoffnung – wird zeigen, dass es auch anders geht. Wir wollten herausfinden: Wie weit sind andere europäische Länder bei der Diskussion um die sogenannte Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten? Welche Regeln und technischen Voraussetzungen haben sie geschaffen? Was kann Deutschland von seinen europäischen Nachbarn lernen?


Um diese und weitere Fragen zu beantworten, hat empirica im Frühjahr 2021 im Auftrag des Verbandes der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) eine Studie durchgeführt und für fünf ausgewählte Länder untersucht, wie Gesundheitsdaten der wissenschaftlichen Forschung, das heißt, der öffentlichen und privat finanzierten Forschung3, verfügbar gemacht werden. Der Fokus wurde dabei insbesondere auf die private Forschung gelegt. Die Studie analysiert die aktuelle Situation in Deutschland und deckt die Rahmenbedingungen für Gesundheitsdatennutzung in Finnland, Frankreich, den Niederlanden, Portugal und dem Vereinigten Königreich ab. Digital-Health-Expert:innen mit tiefem praktischem und theoretischem Wissen über Datennutzung und einer hohen Vertrautheit mit dem Stand der öffentlichen Diskussion und Umsetzung digitaler Gesundheitspolitiken beantworteten hierfür einen Online-Fragebogen.


Deutschland: Erste Rahmenbedingungen geschaffen – Industrie bisher nicht berücksichtigt
In den vergangenen Jahren wurden einige gesetzliche Änderungen und Ergänzungen vorgenommen, die dem Digitalisierungsprozess neue Dynamik verliehen haben. So sieht das DVG vor, dass die bei den Krankenkassen vorliegenden Abrechnungsdaten zukünftig pseudonymisiert in einem Forschungsdatenzentrum zusammengefasst und ab 2023 für die Forschung nutzbar gemacht werden. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen fungiert hierbei als Datensammelstelle, von der die pseudonymisierten Daten an das Forschungsdatenzentrum geliefert werden. Das Forschungsdatenzentrum hat neben der Bereitstellung der Daten für gesetzlich definierte Forschungszwecke die Aufgabe, die Qualität der Daten zu sichern, ein Antragsregister anzulegen und Schulungsmöglichkeiten für Nutzungsberechtigte zu schaffen.


Die Abbildung 1 illustriert das gesetzlich vorgesehene Antragsverfahren zur Nutzung von Gesundheitsdaten in Deutschland. Anzumerken ist, dass sich dieser Prozess zum aktuellen Zeitpunkt (August 2021) im Aufbau befindet. Gesammelte Daten werden Nutzungsberechtigten (z. B. Krankenkassen, Hochschulen, Landes- und Bundesbehörden, Kammern der Heilberufe) für verschiedene gesetzlich definierte Zwecke auf Antrag zugänglich gemacht. Neben der Wahrnehmung von Steuerungsaufgaben oder der Gesundheitsberichterstattung ist „Forschung“ als Nutzungszweck ausdrücklich erwähnt. Die privat finanzierte Forschung hat jedoch kein Antragsrecht beim Forschungsdatenzen­trum. Gesundheitsdaten sind daher für die industrielle Forschung nur eingeschränkt und nur innerhalb einer freiwilligen Kooperation mit originär Nutzungsberechtigten verwendbar. Dies kann im Rahmen sogenannter öffentlich-privater Partnerschaften geschehen, zum Beispiel über die Zusammenarbeit an einem Forschungsprojekt einer Krankenkasse A mit einem Unternehmen B.4 Bis zur Gesetzesnovelle war dies der etablierte Weg, über welchen die industrielle Forschung Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken nutzen konnte.


Das DVG wird seit dem 3. Juli 2020 durch das PDSG komplementiert. Der Gesetzgeber erweiterte hiermit das bestehende Recht um Datenschutz- und Informationssicherheitsbelange von in elektronischer Form gespeicherten Gesundheitsdaten, insbesondere solchen in elektronischen Patientenakten (ePA). Zukünftig soll es auch möglich sein, dass Patient:innen ihre elektronischen Gesundheitsdaten freiwillig über eine Datenspende wissenschaftlichen Forschungszwecken zur Verfügung stellen können. Dies geschieht über ein Opt-in-Verfahren, bei dem ab 2023 die Daten aus der ePA an das Forschungsdatenzentrum freigegeben und übermittelt werden.5 Die Datenspende soll auch direkt für einzelne Forschungsvorhaben möglich sein. Hiervon würde zukünftig auch die industrielle Forschung profitieren. Konkrete Prozeduren sind jedoch gesetzlich bisher nicht festgelegt.


Stand der Datennutzung im Ausland: One-Stop-Shop, Transparenzregister und Opt-out
Während die deutsche Gesetzgebung vergleichsweise jung ist und sich das Forschungsdatenzentrum noch im Aufbau befindet, haben einige europäische Nachbarn bereits Erfahrung im Bereich der Datennutzung vorzuweisen. Wesentliche Ergebnisse der durchgeführten Online-Befragung sowie einer ergänzenden Literaturanalyse sind in Abbildung 2 (Seite 18) zusammengefasst.
Aus den Ergebnissen der Online-Umfrage ergaben sich die folgenden Themenblöcke mit wiederkehrenden Elementen:

 

  • Das Modell eines One-Stop-Shops wird in Finnland und Frankreich erfolgreich angewandt, um Forschenden zentralisiert Zugang zu verschiedensten Datensätzen zu geben.
  • Die industrielle Forschung wird in allen Studienländern bei der Datennutzung mitgedacht. Eine starke staatliche Kontrolle und die gleichberechtigte Einbeziehung aller Akteur:innen ist gemeinsames Ziel aller Länder.
  • Forschungsanträge zu Zwecken mit einem berechtigten öffentlichen Interesse werden von der zentralen Antragstelle transparent veröffentlicht. Dies schafft Vertrauen und DSGVO-konforme Opt-out-Verfahren begünstigen größere Datenmengen.
  • Gesundheitsdaten werden in Finnland, Frankreich und dem Vereinigten Königreich in digitalen Forschungsumgebungen verfügbar gemacht. Antragsverfahren unterscheiden sich nach dem Niveau der Unkenntlichmachung von identifizierenden Merkmalen in den Daten: anonyme aggregierte Daten oder lediglich pseudonymisierte Daten.
  • Je höher der Digitalisierungsgrad, desto größer der potenzielle Nutzen von Gesundheitsdaten. Dieser wird durch einheitliche Standards, hohe Datenqualität und technisch wie semantisch interoperable Infrastrukturen bestimmt.


Handlungsempfehlungen für eine verbesserte Gesundheitsversorgung durch innovationsfördernde Datennutzung
Aus dem Blick ins europäische Ausland lassen sich wichtige Impulse für eine Weiterentwicklung der Datennutzung in Deutschland ableiten. Diese Impulse beziehen sich größtenteils auf die Rolle des Forschungsdatenzen­trums und versuchen, europäische Erfolgsvorhaben auf die vorhandene Situation in Deutschland zu übertragen.


Die industrielle Forschung sollte auch in Deutschland als relevante Akteurin bei der Datennutzung mitgedacht werden. Aus den Erfahrungen der anderen Länder zeigt sich, dass Forschung und Innovation einen berechtigten Verwendungszweck darstellen und ein Monopol der öffentlichen Forschung auf die Nutzung von Gesundheitsdaten in anderen Ländern nicht vorzufinden ist. Schlussendlich können einige Praxistipps für eine Weiterentwicklung der Datennutzung in Deutschland gegeben werden.


In Zusammenarbeit mit der Vertrauensstelle7 wird das Forschungsdatenzentrum in Deutschland eine zen­trale Rolle für die Forschung im Gesundheitsbereich einnehmen. Das Forschungsdatenzentrum sollte Forschungsanträge ethisch und forschungsbezogen prüfen – zusätzlich zu der nötigen Überprüfung einer rechtlichen Grundlage. Ein damit beauftragtes wissenschaftliches Komitee kann sämtliche Anträge nach einem einheitlichen Muster prüfen. Mit diesem Schritt würde der Gesetzgeber gleiche Möglichkeiten für die öffentliche und die industrielle Forschung schaffen, Vertrauen rechtfertigen und die Etablierung einer ungleichen Forschungslandschaft in Deutschland umgehen.
Damit Gesundheitsdaten angemessen zur Verfügung gestellt werden können und die Einhaltung des Datenschutzes zuverlässig gewährleistet und jederzeit überprüft werden kann, könnte das Forschungsdatenzentrum in Benehmen mit den Behörden einen Cloud-Dienst entwickeln, eine Art digitale Forschungsumgebung. Forschenden könnte darüber personalisierter Zugriff auf die nötigen Daten gegeben werden und sämtliche Interaktionen mit der Plattform würden für mögliche Überprüfungen dokumentiert. Die Plattform könnte derartig aufgebaut sein, dass eine Reihe einfacher und fortgeschrittener analytischer Operationen direkt online durchgeführt werden können.


Ähnlich wie in Finnland wäre auch in Deutschland ein differenziertes Antragsverfahren denkbar. Dort wird unterschieden zwischen aggregierten Daten für statistische Zwecke und pseudonymisierten Daten. Das zukünftige Antragssystem für aggregierte Daten könnte schlanker gestaltet und mit weniger Anforderungen für Angaben im Antragsformular versehen werden, da entsprechend auch die Risiken eines Datenmissbrauchs sehr gering ausfallen. Insbesondere für kleinere Vorhaben wäre ein schlankeres Verfahren auch im Sinne aller Forschenden. Gemäß der aktuellen Gesetzeslage müsste das Forschungsdatenzentrum über die Antragsverfahren informieren und relevante Dokumente publik machen.


Für eine transparente Darstellung aller Informationen zu Antragsverfahren und -berechtigten könnte das Forschungsdatenzentrum gegenüber den Bürger:innen Näheres zu den einzelnen Forschungsvorhaben berichten. Im Geiste des französischen Transparenzregisters könnten interessierte Personen nachvollziehen, welcher Antragsteller zu welchen Themen forscht, was der genaue Status des Vorhabens ist und eventuell auch eine Zusammenfassung der Ergebnisse erhalten.
Das aktuell in Deutschland vorgesehene mehrfache Opt-in-Verfahren birgt das Risiko, dass digitale Gesundheitsleistungen zu wenig genutzt werden. Die ePA und damit verbundene Infrastrukturen werden auch in Deutschland zukünftig eine zentrale Rolle im Gesundheitswesen einnehmen. Der Erfolg der ePA wird dabei zum größten Teil von der Nutzungsbereitschaft der Bevölkerung abhängen. Die DSGVO-konforme Möglichkeit des Opt-out-Verfahrens wird in Systemen wie dem NHS England bereits seit Jahren praktiziert. Gemäß der Idee der späteren Widerspruchsmöglichkeit wird für jede Person eine ePA angelegt und damit zugleich der Zugriff auf darin enthaltene Daten für Leistungserbringer ermöglicht. Auch der Sachverständigenrat fordert zu prüfen, ob ein Opt-out-Verfahren in Deutschland im Bereich der Datennutzung zum Tragen kommen kann.


Ausblick
DVG, PDSG und DVPMG sind wichtige Schritte auf dem Weg zur Verfügbarmachung und effizienten Nutzung von Gesundheitsdaten für die Forschung in Deutschland. Es fehlen jedoch weitere Schritte, um Gesundheitsdaten für eine verbesserte Gesundheitsversorgung vollständig nutzen zu können. Mit dem Forschungsdatenzentrum vergleichbare Einrichtungen in den hier untersuchten Studienländern ermöglichen auch der Industrie einen geregelten und datenschutzkonformen Zugang zu digitalen Gesundheitsdaten.


Die skizzierten Impulse für eine Weiterentwicklung deutscher Gesundheitsdatennutzung für die gesamte Forschungslandschaft können dazu beitragen, das wohl wichtigste Kriterium für eine gesellschaftlich akzeptierte Gesundheitsdatenindustrie zu erfüllen: Vertrauen. Der Gesetzgeber hat die Möglichkeiten an der Hand, Gleichberechtigung unter wissenschaftlich Forschenden herzustellen und diese mit ethischen und rechtlichen Prinzipien zu untermauern. Drei weitere Erfolgskriterien sind für den zukünftigen Erfolg entscheidend: hohe Datenqualität, Interoperabilität und datengetriebene Innovation. Die erfolgreiche Umsetzung der Telematikinfrastruktur 2.0 und das Entwickeln geeigneter Standards und Spezifikationen durch die entsprechenden Stakeholder werden eine hohe Datenqualität und Interoperabilität aller Systeme schlussendlich ermöglichen. Datengetriebene Innovation jedoch bedingt das Mitdenken der industriellen Forschung und die Schaffung geeigneter Maßnahmen und Mechanismen, innerhalb derer auch sie einen geregelten Zugang zu Gesundheitsdaten erhält.
Eine solch innovationsorientierte Diskussion zwischen allen relevanten Akteur:innen wird maßgeblich darüber entscheiden, welche Zukunft die Gesundheitsversorgung in Deutschland hat.



Die vollständige Studie gibt es hier zum Download:

https://www.vfa.de/download/studie-gesundheitsdatennutzung-in-der-forschung

 

 

Fußnoten

1   Thiel et al. (2018). #SmartHealthSystems: Digitalisierungsstrategien im internationalen Vergleich.
Verfügbar unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Der_digitale_Patient/VV_SHS-Gesamtstudie_dt.pdf


2  Gerlach et al. (2021). Digitalisierung für Gesundheit – Ziele und Rahmenbedingungen eines dynamisch lernenden Gesundheitssystems. Verfügbar unter: https://www.svr-gesundheit.de/fileadmin/Gutachten/Gutachten_2021/SVR_Gutachten_2021_online_.pdf


3  Vgl. Erwägungsgrund 159 DSGVO. Verfügbar unter: https://www.dsgvo-portal.de/dsgvo_erwaegungsgrund_159.php


4
 § 75 SGB X.


5
Bundesministerium für Bildung und Forschung (2020). Daten helfen heilen - Innovationsinitiative „Daten für Gesundheit“: Roadmap für eine bessere Patientenversorgung durch Gesundheitsforschung und Digitalisierung. Verfügbar unter: https://www.bmbf.de/upload_filestore/pub/Daten_helfen_heilen.pdf