Wie hat sich die Diabetesversorgung in Deutschland in den bisherigen Corona-Monaten geschlagen?
Müller-Wieland: Diabetes wurde ja sehr schnell als Hochrisikoerkrankung für COVID-19 ausgerufen. Das relativiert sich etwas, wenn man sich die Daten genauer ansieht. Wir gehen, Stand heute, davon aus, dass es für die Gesamtgruppe der Diabetespatienten eher kein erhöhtes Risiko für die Infektion gibt, aber möglicherweise hat die Qualität der Stoffwechseleinstellung eine Bedeutung für den klini-schen Verlauf. Wir müssen aber auch so bescheiden sein, zu sagen, dass wir ständig dazulernen. Was die konkrete Versorgung angeht, müssen wir trennen zwischen Krankenhaussektor und niedergelassenem Bereich. Insgesamt gab es schon eine große Zurückhaltung der Bevölkerung, was Arztbesuche angeht. Welche Kollateralschäden im weitesten Sinne dies zur Folge hatte, muss sorgfältig untersucht werden. In jedem Fall ist ein wichtiges Anliegen der DDG und vieler anderer Fachgesellschaften, mit positiver Kommunikation wieder Vertrauen zu schaffen. Krankenhäuser und Arztpraxen sind in der Corona-Krise durch gutes Management und Umorganisation relativ
sichere Bereiche geworden, verglichen mit anderen Orten.
Inwieweit hat die Digitalisierung bei der Bewältigung der Corona-Krise schon konkret geholfen?
Müller-Wieland: Digitale Versorgungsangebote inklusive telemedizinischer Angebote haben bei der Aufrechterhaltung der Versorgung geholfen. Da ist schon eine breite Wahrnehmung, würde ich sagen. Viele Ärzte haben die Erfahrung gemacht, dass Telemedizin nicht irgendwie kompliziert ist, sondern geht. Geholfen hat sicher, dass es bei den Industrieangeboten durch Corona einen deutlichen qualitativen Push gab. Insgesamt ist das jetzt eine gute Ausgangssituation für die Dinge, die wir in Angriff nehmen wollen, nämlich eine „echte“ Digitalisierung im Sinne einer Sammlung und Auswertung von Versorgungsdaten und einer patientenorientierten digitalen Transformation der Diabetesversorgung.
Wir haben in Deutschland rund 7 Millionen Typ-2-Diabetes- und knapp 400 000 Typ-1-Diabetespatienten. Wie digital ist die Versorgung dieser Patienten Stand heute schon?
Müller-Wieland: Patienten mit Typ-1-Diabetes sind fast alle strukturiert und digital an eine Schwerpunktpraxis angebunden. Diese Patienten haben ihre kontinuierliche Glukosemessung, ihre Auswertesysteme, ihre KI-unterstützte Insulinapplikation. Beim Typ-2-Diabetes hängen wir mit der Digitalisierung dagegen stark hinterher, aber das ist natürlich auch eine sehr heterogene Gruppe. Zumindest bei den jüngeren Betroffenen nimmt das Glukosemonitoring zu. Das spiegelt sich auch in der Ausstattung der Praxen: Schwerpunktpraxen, die Typ-1-Patienten versorgen, müssen sich zu einem gewissen Grad mit dem Thema auseinandersetzen. Beim reinen Typ-2-Diabetes hängt es sowohl bei den Schwerpunktpraxen als auch bei den zahlreichen Hausärzten stark davon ab, wie viel Druck vom Patienten kommt.
Ickrath: Wenn Sie heute um 17 Uhr den Fernseher anschalten, sehen Sie Fernsehwerbung der beiden Marktführer bei der kontinuierlichen Glukosemessung. Das illustriert die Dynamik. Von Ärzten wird das übrigens durchaus kritisch gesehen, weil die Indikation quasi durch den Druck der Straße gestellt wird. Es hat aber auch positive Seiten, weil viele Patienten auf diese Weise mit den innovativen Technologien bekannt gemacht werden. Was die Ärzte angeht: Es ist schon vor allem die Generation 50 plus, die sich schwertut. Es gibt Schwerpunktpraxen, die sagen, sie seien digitalisiert, arbeiten aber nur mit ein oder zwei Softwareprogrammen und lehnen alles andere ab. Das Gleiche gilt übrigens für die Diabetesberaterinnen, die im Durchschnitt auch über 50 Jahre alt sind. In dieser Generation hören wir häufig noch die Frage: „Was fangen wir mit dieser Datenflut an?“ Dass dadurch neue Analysemöglichkeiten entstehen, wird dann nicht gesehen.
Wie viele Programme für das Glukosemanagement gibt es in einer gut digitalisierten Praxis heute?
Ickrath: Es gibt im Augenblick circa fünf Programme, die als wesentliche Marktteilnehmer anzusehen sind. Es kommen neue Lösungen, die deutlich interoperabler sind.
Die DDG hat schon 2017 einen Code of Conduct zur Digitalisierung vorgelegt. Warum sollte sich eine Fachgesellschaft mit dem Thema auseinandersetzen? Können Sie sich nicht einfach um die Leitlinien kümmern und gut ist?
Müller-Wieland: Eine Frage, die wir uns auch gestellt haben, und die ich auch häufiger mit dem folgenden Unterton höre: „Wenn das jetzt jede Fachgesellschaft machen würde, wo kämen wir denn da hin?“ Ich antworte dann immer: „Wäre doch super.“ Im Ernst, natürlich muss sich eine Fachgesellschaft selbstreflektierend fragen, was die eigene Legitimation oder der Mehrwert ist, den wir kompetenzbasiert glauben einbringen zu können. Es geht uns darum, wie sich die Versorgung durch die neuen Möglichkeiten gestalten lässt.
Ickrath: Ich möchte noch die gesellschaftspolitische Verantwortung einer Fachgesellschaft ergänzen. Die Digitalisierung bietet ja auch neue Möglichkeiten, Leitlinien und damit bestmögliche Versorgung in die Breite zu bringen. Auch dafür, nicht nur für die Formulierung der Standards, fühlen wir uns als Fachgesellschaft zuständig. Wir wollen die digitale Transformation konkretisieren, indem wir analoge in digitale Leitlinien umwandeln. Und wenn es darum geht, Leitlinienwissen und Versorgung zusammenzubringen, sind wir sehr schnell beim Thema der elektronischen Diabetesakte.
Die elektronische Diabetesakte hat die DDG zuletzt viel beschäftigt. Sie haben da ein paar Schleifen gedreht. Welche Lektionen haben Sie dabei gelernt?
Ickrath: Eine wichtige Erfahrung ist sicher, dass wir nicht im luftleeren Raum agieren, sondern uns an der Politik orientieren müssen. Da hat sich in den zurückliegenden Jahren einiges durch die richtigen Entscheidungen des BMG geändert, was dann Auswirkungen auf unsere Strategie hatte. Ich denke, es war gut, dass wir uns etwas Zeit gelassen und zunächst sondiert und eingeordnet haben, um dann mit den richtigen Partnern loszulegen.
Müller-Wieland: Ich würde gern betonen, dass das Grundkonzept der elektronischen Diabetesakte, der eDA, gleichgeblieben ist: Wir wollten und wollen eine Struktur, mit deren Hilfe Daten für die Versorgung und für die Forschung zur Verfügung stehen, wenn der Patient das will. Ich halte das nicht nur für individualmedizinisch sinnvoll, sondern auch für ethisch und gesellschaftspolitisch geboten. Wir sind ein solidarisch finanziertes Gesundheitssystem, und da sollte es einen Datenpool geben, der es uns ermöglicht, die beste Medizin zu gestalten.
Sie sind mit den eDA-Plänen zunächst auf die Krankenkassen zugegangen, jetzt aber, etwas salopp gesagt, bei der gematik und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung gelandet. Wie kam das?
Ickrath: Als wir den Code of Conduct 2017 geschrieben hatten, liefen gerade Sondierungsgespräche für die neue Bundesregierung, die sich ewig hinzogen. In dieses politische Vakuum sind die Krankenkassen gestoßen: Sie wollten, mit Recht, beim Thema Patientenakte nicht länger warten. AOK Nordost, Techniker Krankenkasse und das DAK/BKK-Konsortium hatten eigene Aktenprojekte
gestartet. Da war klar, dass das auch unsere ersten Ansprechpartner waren, denn wir wollten ja eine eDA für die breite Versorgung, die als Fernziel 90 Prozent aller Patienten von 90 Prozent aller Ärzte abdeckt. Spahn hat die Agenda dann verändert und bei der elektronischen Patientenakte die gematik stark nach vorne gerückt. Außerdem erhielt die KBV die Hoheit über die Medizinischen Informationsobjekte (MIO). An diesem Punkt haben wir uns dann an gematik und KBV orientiert.
Müller-Wieland: Es hat mich damals schon etwas gestört, dass die Krankenkassen gesagt haben, wo es lang geht. Das ist eigentlich nicht Sinn der Sache. Wir haben in unserem Code of Conduct formuliert, dass die Digitalisierung weder allein der Selbstverwaltung noch allein dem freien Markt überlassen bleiben sollte. Was immer digital passiert, wird Implikationen auf die Versorgung haben. Unser Selbstverständnis ist, dies z.B. mit der eDA mitzugestalten.
Was genau schwebt Ihnen bei der eDA vor?
Ickrath: Das Grundkonzept ist eine eDA, die sich als eine Art Client-System an die ePA der Patienten anbindet und dabei voll interoperabel ist mit sowohl der ePA als auch mit den Kommunikationsdiensten der Telematikinfrastruktur, insbesondere dem neuen KIM-Dienst. Die eDA dient dem Informationsaustausch im Rahmen der alltäglichen Versorgung der Diabetespatienten, und sie ist die Datenquelle für das ebenfalls unter der Hoheit der DDG aufzubauende, nationale Diabetesregister. Was technische und semantische Standards angeht, haben wir uns als Kooperationspartner das Unternehmen InterSystems ins Boot geholt. Beim Register ist unser Kooperationspartner das aus dem HPI hervorgegangene Unternehmen Data4Life.
Wie genau sollen ePA, eDA und Telematikinfrastruktur interagieren?
Müller-Wieland: Die eDA und die ePA sind zunächst unabhängig voneinander. Wir wollen Patienten nicht ausschließen, die sich aus welchen Gründen auch immer gegen eine ePA entscheiden, die aber trotzdem eine digital gestützte Diabetesversorgung wünschen. Deswegen wird die eDA auch ein eigenes Patientenportal haben. Vom Ablauf her stelle ich mir das so vor: Der Patient kommt zu mir und hat zum Beispiel schon eine ePA von der Krankenkasse. Ich würde sagen, dass ich es als sein Arzt ausgezeichnet finde, dass er sich für eine ePA entschieden hat, dass ich ihm aber ganz dringend empfehlen würde, zusätzlich einer speziell diabetesbezogenen, digitalen Kommunikation über die eDA zuzustimmen, damit die Kommunikation zwischen allen Beteiligten bei dieser speziellen
Erkrankung noch besser funktioniert. Dann würde ich ihn bitten, dass er seinen Diabetesärzten die Berechtigung gibt, auch auf die ePA zuzugreifen, damit wir wichtige Informationen einsehen und auch für andere Kollegen, die nicht ans eDA-System angeschlossen sind, zur Verfügung stellen können. Und dann käme noch die Frage, ob der Patient einer pseudonymisierten Registerforschung zustimmt, damit die Versorgung wissenschaftlich analysiert und verbessert werden kann.
Nannten wir eine derartige Akte nicht bisher oft „elektronische Fallakte“?
Müller-Weiland: Das Konzept der Fallakte ist bei chronischen Erkrankungen schwierig, denn wann endet der „Fall“ Diabetes? Ich denke, wenn überhaupt, wäre der Begriff „Fachakte“ passender.
Wie genau bringen Sie als DDG Ihre diabetologische Expertise an den unterschiedlichen Stellen ein?
Ickrath: Ein entscheidender Bereich ist die Semantik. Die DDG definiert mit ihren Partnern die semantischen Standards für die eDA, und zwar unter Nutzung nationaler und internationaler Terminologien inklusive SNOMED CT und unter Berücksichtigung bereits existierender Festlegungen im Rahmen der gematik und des MIO-Prozesses der KBV. Wir haben früh mit der KBV und der gematik Kontakt aufgenommen. Im Jahr 2023 sollen die ersten chronischen Erkrankungen in der ePA scharfgeschaltet werden. Uns wurde gesagt, dass der Diabetes zuerst kommt, wenn wir als DDG unsere Hausaufgaben machen. Das heißt konkret, dass wir in der Semantik-Gruppe unserer Kommission Digitalisierung bis Ende dieses Jahres die ersten Teilkomponenten eines modular geplanten Diabetesdatensatzes formulieren und bei der KBV als MIO Diabetes einreichen.
Neben medizinischen Fragen, technisch-semantischen Fragen, Fragen der Einwilligung und Fragen des Datenschutzes stellen sich bei einer eDA auch finanziell-organisatorische Fragen: Welche Rolle kann, will, sollte eine DDG bei der eDA langfristig spielen? Und wer finanziert die eDA?
Müller-Wieland: Gute Frage, auf die es noch keine abschließenden Antworten gibt. Ich selbst mache keinen Hehl daraus, dass ich die eDA ganz klar in der Verantwortung der DDG sehe, sowohl was den Betrieb als auch die Weiterentwicklung angeht. Nur dann können wir von der Fachgesellschaft aus sagen: Das ist unser medizinischer Standard, und daran koppeln wir – irgendwann, nicht gleich am Anfang – vielleicht auch Zertifizierungen. Was die Finanzierung angeht: Es gibt Modelle, zum Beispiel die DMP-Finanzierung. Vielleicht ist es am Anfang sinnvoll zu sagen, man geht fallorientiert vor und hinterlegt bestimmte Versorgungsleistungen mit Vergütungen. Wie bei allen medizinischen Leistungen wird diese Vergütung dann aufgeteilt zwischen den Playern, die beim Endprodukt eine Rolle spielen, inklusive der IT-Dienstleister.
Ickrath: Ich denke auch, es ist noch etwas früh. Es gibt dazu noch keine Vorlage. Auch die eDA wird, wie die ePA, mit einer Basisvariante starten, aber wir haben große Ziele. Zum Beispiel das Diabetesregister, das fordern alle schon seit 30 Jahren. Das wird dann ohne zusätzlichen Dokumentationsaufwand möglich. Und damit können wir erhebliche regionale Unterschiede bei der Versorgung reduzieren. Wir werden Clinical Decision Support implementieren, auch so ein Thema, über das seit Jahren abstrakt geredet wird. Das ist unser Antrieb.
Vorletzte Frage zum Thema Interoperabilität: Technisch brauchen Sie für einen Erfolg der eDA die Anbieter der Glukosemonitoringsysteme als mit die wichtigsten Datenlieferanten. Wie groß ist dort die Bereitschaft, mitzuziehen?
Müller-Wieland: Wir haben im Gefolge des Code of Conduct erste runde Tische veranstaltet mit den Unternehmen, und das war teilweise schon etwas bemerkenswert. Die Zeit, mit der Software-Industrie zu reden, ist jetzt gekommen. Wir werden eine sehr klare Erwartungshaltung formulieren. Das Entscheidende aus unserer Sicht ist – neben interoperablen Standards – ein halbwegs einheitliches Frontend auf Arztseite. Da brauchen wir z. B. eine standardisierte Aufarbeitung der Information an der Oberfläche.
Ickrath: Das sind schon dicke Bretter, die wir da bohren. In den ersten Gesprächsrunden mit den Herstellern wurde beim Thema Datenschutz abgewimmelt, und beim Stichwort Algorithmen-TÜV wurde uns mitgeteilt, dass die Algorithmen Geschäftsgeheimnisse der Mutterunternehmen in den USA seien. Aber politisch passiert in Deutschland und Europa derzeit einiges zu unseren Gunsten. Die Themen Privacy Shield, Datenschutz und Datensicherheit wird diese Unternehmen massiv beschäftigen. Und als Fachgesellschaft haben wir natürlich die Möglichkeit, bestimmte Empfehlungen auszusprechen, wie auch immer die dann aussehen werden.
Wie groß ist das Interesse an dem Thema eDA bei den Mitgliedern der DDG?
Müller-Wieland: Das ist ein kontinuierlicher Prozess. Wir haben das Thema jetzt über mehrere Jahre in die DDG hineintransportiert. Durch die Semantik-Arbeit wird das jetzt sehr konkret, da arbeiten sowohl Krankenhausdiabetologen, klinische Forscher und Niedergelassene engagiert mit. Die DDG ist eine große Fachgesellschaft. Ich denke aber, dass jeder in der DDG weiß, dass wir uns damit befassen; es ist eben ein großes und kompliziertes Projekt. Am Ende stehen eine bessere Versorgung, Forschung und Datenbasis für gesundheitspolitische Gestaltungen, da bin ich mir sicher.
Das Interview führte Philipp Grätzel von Grätz, Chefredakteur E-HEALTH-COM