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Kardiodiagnostik in der Notaufnahme: KI schlägt Laborwert

Mehr diagnostisches Wissen in der Kardiologie durch Maschinenlernen? An der Mayo Clinic in Rochester in den USA gibt es eine renommierte medizinische KI-Arbeitsgruppe, die sich seit mehreren Jahren genau darum bemüht. Ihr Lieblings-Tool ist über einhundert Jahre alt. Auch dank der Arbeit der US-Amerikaner ist es heute aktueller denn je.

Quelle: © spaxiax – stock.adobe.com

Mitte des 19. Jahrhunderts kamen Wissenschaftler zum ersten Mal auf den Gedanken, dass die Kontraktion des Herzens letztlich ein elektrischer Prozess ist, oder zumindest ein mechanischer Prozess, der elektrisch angetrieben, synchronisiert und an die äußeren Umstände adaptiert wird. Ebenfalls noch im 19. Jahrhundert wurde das erste EKG aufgezeichnet, nicht an einem Menschen, sondern an einem Hund. Und im Jahr 1903 optimierte ein Holländer namens Willem Einthoven dieses Konzept dahingehend, dass er drei Standardableitungen definierte, die heute noch seinen Namen tragen, Einthoven I bis III. Im Jahr 1934 führte Frank Norman Wilson, ein US-Amerikaner, die Brustwandableitungen V1 bis V6 ein, bei denen die drei Einthoven-Elektroden zusammengeschaltet werden und der Strom jeweils gegen eine von insgesamt sechs präkordialen Elektroden abgeleitet wird. Noch mal acht Jahre später machte Emanuel Goldberger mit seinen Ableitungen aVL, aVR und aVF, bei denen je zwei Einthoven-Elektroden gegen die dritte abgeleitet werden, das Dutzend voll.


Diese zwölf EKG-Ableitungen sind bis heute der Standarddatensatz von Aufnahme-EKGs in Arztpraxen und Notaufnahmen auf der ganzen Welt. Was die externe EKG-Diagnostik angeht, kam seit 1942 praktisch nichts mehr hinzu, wenn wir von ein paar Spezialableitungen absehen und von einem separaten Satz an bipolaren Brustwandableitungen namens CR1 bis CR6, die in der Sowjetunion anstelle von V1 bis V6 üblich waren. Tatsache ist: Das 12-Kanal-EKG ist in gewissem Sinne Kardiologie-Steinzeit, und entsprechend wurde es auch schon häufiger totgeschrieben. Wie viel besser sind doch intrakardiale Ableitungen! Wie viel mehr Daten liefern moderne bildgebende Verfahren und Laborbiomarker!


Mayo Clinic-Wissenschaftler: Aus dem EKG noch mehr herausholen
Wirklich? Der Vorteil am 12-Kanal-EKG ist und war immer, dass es eine Menge an Informationen zur Verfügung stellt dafür, dass es nur ein paar Minuten dauert und nach kurzer Anleitung von jedem Praxisassistenten, jeder Pflegekraft, jeder Rettungssanitäterin und jedem Medizinstudierenden nichtinvasiv aufgezeichnet werden kann. Auch deswegen hat sich ein Team von Kardiologen und KI-Experten um Zachi Itzahk Attia von der Abteilung für kardiovaskuläre Erkrankungen an der Mayo Clinic in Rochester für eines der weltweit umfangreichsten KI-Forschungsprogramme in der Kardiologie ausgerechnet diese Methode ausgesucht. Lässt sie sich aus ihrem Dornröschenschlaf erwecken oder, anders formuliert, kann das Aufnahme-EKG mit Maschinenlernalgorithmen so gepimpt werden, dass es therapeutisch nützliche Informationen liefert, die dem geübten Blick des Kardiologen, Hausarztes oder Notarztes entgehen?

 

Die Arbeit begann vor etwas mehr als zwei Jahren. Die Wissenschaftler haben damals einen Algorithmus entwickelt, der darauf trainiert wurde, Patienten mit einer linksventrikulären Pumpfunktion (LVEF) von 35 Prozent oder weniger zu erkennen, also Menschen mit ausgeprägter systolischer Herzinsuffizienz. Das ist auf der Notaufnahme sehr relevant, wenn sich ein Patient mit Luftnot vorstellt: Hier ist die Herzinsuffizienz neben der Lungenentzündung und der Fremdkörperaspiration die wichtigste Differenzialdiagnose. Der Algorithmus wurde mit über 100 000 EKG-Datensätzen und dazu passenden klinischen Informationen gefüttert, und am Ende erreichte er – monozentrisch und retrospektiv – einen negativ prädiktiven Wert von 99 Prozent bei einer Sensitivität bzw. Spezifität von je 86 Prozent. Mit anderen Worten: Per KI ließ sich eine Herzinsuffizienz ziemlich gut ausschließen, und zumindest halbwegs gut positiv diagnostizieren (Attia ZI et al. Nature Medicine 2019; 25:70-4).


And the Winner Is: Die Künstliche Intelligenz
Nach noch etwas mehr Algorithmentraining haben die Mayo-Experten jetzt eine neue Publikation vorgelegt und ihren Algorithmus – wieder retrospektiv – in dem erwähnten Notaufnahmeszenario in einer vergleichenden Studie evaluiert. Der „Gegner“ war das NT-pro BNP, also ein Laborwert, der heute standardmäßig bei Patienten mit Luftnot gemessen wird, um auf Herzinsuffizienz zu screenen. Tatsächlich entschied der KI-Algorithmus auf EKG-Basis diesen Wettstreit für sich: Die diagnostische Genauigkeit im Hinblick auf eine LVEF ≤ 35% betrug 86 Prozent. NT-pro BNP schaffte nur 80 Prozent (Adedinsewo D et al. Circ Arrhyth Electrophys 2020; doi: 10.1161/CIRCEP.120.008437).


Die US-Amerikaner konnten in den letzten zwei Jahren noch ein paar Dinge zeigen. So ließen sich mittels KI-Algorithmus-unterstütztem 12-Kanal-EKG auch Patienten identifizieren, die ein vierfach erhöhtes Risiko hatten, innerhalb der kommenden zehn Jahre eine schwere, systolische Herzinsuffizienz zu entwickeln. Und anhand von 12-Kanal-EKGs mit Sinusrhythmus konnten die Kardiologen und KI-Experten zumindest ansatzweise vorhersagen, welche Patienten entweder bereits intermittierendes Vorhofflimmern haben oder es kurzfristig entwickeln werden. Dieser ­etwas anders geartete Algorithmus ­wurde an 126 000 Datensätzen trainiert, und erreicht im Hinblick auf die klinisch-elektrokardiographische Diagnose innerhalb der nächsten 31 Tage bei einem Ausgangs-EKG im Sinusrhythmus eine Sensitivität und Spezifität von je 80 Prozent (Attia ZI et al. Lancet 2019; 394:861-7).


Zusätzliche Elektroden, zusätzliche Informationen

Das ist noch nicht sehr beeindruckend, aber ganz schlecht ist es auch nicht, vor allem wenn berücksichtigt wird, dass es bei dieser Art von Verfahren nicht um definitive Diagnosen, sondern um ein Risiko-Screening geht. Es wäre zum Beispiel zu überlegen, ob derart definierte Risikopatienten nicht unter weiterer Überwachung zumindest vorläufig antikoaguliert werden sollten. Im Falle der oben erwähnten Patienten mit hohem Risiko für einen LVEF-Abfall könnte die Frage diskutiert werden, ob nicht eine frühe medikamentöse Herzinsuffizienztherapie Sinn machen könnte.


Auch deutsche Arbeitsgruppen kümmern sich mittels KI-Algorithmen um elektrische Herzsignale. Per modifizierter Vektorkardiographie haben deutsche und US-amerikanische Experten zusammen mit dem Unternehmen Cardisio einen Algorithmus entwickelt, der regionale Unterschiede der kardialen Erregung im Zeitverlauf nachweisen kann. Die Vektorkardiographie spannt mit drei Elektroden auf der Vorderseite und einer zusätzlichen Elektrode auf der Rückseite den dreidimensionalen Raum im Brustkorb exakt auf. Regionale Erregungsunterschiede werden von dem Algorithmus als Hinweis auf ischämische Areale interpretiert.
Auch das funktionierte in einer Studie mit 595 Patienten mit stabiler Angina pectoris nicht schlecht: Zumindest bei Männern konnte eine angiographisch bestätigte, koronare Ein- oder Mehrgefäßerkrankung mit einer Sensitivität von 97 Prozent, einer Spezifität von 76 Prozent und einem positiv prädiktiven Wert von 90 Prozent im Vorfeld erkannt werden (Braun T et al. J Electrocardiol 2020; 59:100-5).


Macht das alles Sinn?

Die entscheidende Frage bei all diesen Studien und Szenarien ist natürlich, wie so oft beim Thema künstlicher Intelligenz und Maschinenlernen: Macht das alles Sinn? Werden reale Probleme gelöst oder handelt es sich nur um Zusatzinformationen, die vielleicht ganz nett sind, die aber im Alltag nichts verändern? Die Medizin leidet nicht an einem Mangel an Daten und Befunden, ihr fehlt es allenfalls an Informationen, die evidenzbasierte, klinische Konsequenzen haben.


Das KI-gestützte EKG könnte tatsächlich in die Kategorie der praxisverändernden Konzepte fallen und damit eines von mehreren Eingangstoren für KI in die Routineversorgung sein. Zum einen erfordert es keine neuen Abläufe: Das 12-Kanal-EKG ist auf der Notaufnahme in internistischen klinischen Konstellationen ab einem gewissen Alter ohnehin Standard. Auch internistische Praxen überall auf der Welt bieten diese Methode standardmäßig an. Selbst wenn, Stichwort Vektorkardiographie, noch die eine oder andere Zusatzelektrode geklebt werden müsste, wäre das kein Zusatzaufwand.


Gerade in Arztpraxen, wo Patienten mit Brustschmerzen oder Luftnot hingehen, die nicht in einer Notfallkonstellation sind, kann ein KI-hinterlegtes EKG wertvoll sein, wenn es sich als so zuverlässig herausstellt, wie die retrospektiven Studien das vermuten lassen. Es hilft, wenn ein Allgemeininternist eine akute Herzinsuffizienz weitgehend ausschließen kann oder wenn er weiß, dass ihm ein Patient mit hohem kurzfristigem Risiko für Vorhofflimmern oder mit hoher Wahrscheinlichkeit für eine koronare Herzerkrankung gegenübersitzt – wenn nicht für die unmittelbare Therapie, dann zumindest für die Entscheidung über eine dringliche oder weniger dringliche Überweisung zum Facharzt.


In einem die aktuelle Mayo Clinic-Publikation begleitenden Editorial nimmt Larisa Tereshchenk vom Knight Cardiovascular Institute der Oregon Health & Science University diese Gedanken auf: Sie sieht das KI-gestützte EKG als ein Versprechen für eine bessere Zukunft. Künftige EKG-Algorithmen könnten nicht nur Vorhofflimmern, eine reduzierte EF und Ischämien, sondern auch andere Rhythmusstörungen sowie Hyperkaliämien oder hypertrophe Kardiomyopathien erkennen. Viel Information dafür, dass kein einziger zusätzlicher Schritt im Abklärungs-Workflow nötig ist.


Tereshchenk weist aber auch darauf hin, dass es weiterhin kaum randomisierte Studien zu KI-Algorithmen gibt, auch nicht beim EKG, und dass eine kürzlich publizierte Übersichtsarbeit einmal mehr gezeigt habe, dass die bisherigen Beobachtungsstudien ein hohes Bias-Risiko aufweisen (Nagendran M et al. BMJ 2020; 368:m689). Sprich: Die Ergebnisse der bisherigen Studien sind oft sehr schlecht auf andere Kontexte übertragbar, und das kann schon das Nachbarkrankenhaus sein: „Um seine klinische Nützlichkeit zu belegen, muss jedes Prädiktionsmodell zeigen, dass die Vorhersagen korrekt sind. Es muss in großen, heterogenen Populationen prospektiv validiert werden. Und es muss zeigen, dass seine Nutzung klinische Endpunkte verbessert.“ Sei das gewährleistet, dann könne zumindest im Fall des KI-hinterlegten EKGs davon ausgegangen werden, dass es von den klinischen Praktikern gut angenommen und zu einer signifikanten Verbesserung der Versorgung beitragen werde. Willem Einthoven wirds gerne hören.