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»KHZG auf der Schiene: Wird die Medikation endlich (überall) digital?«

Über den Nutzen einer konsequenten Digitalisierung der Arzneimittelverordnung im Krankenhaus wird seit Jahren geredet und geschrieben. Doch passiert ist in Deutschland vergleichsweise wenig. Michael Baehr, Chefapotheker Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), ist einer der Pioniere von digitaler Verordnung, Unit-Dose-Systemen und Closed-Loop-Administration in Deutschland. Hier verrät er, warum das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) eine Wende sein könnte – und was ihn aus Krankenhaussicht noch am E-Rezept stört.

Foto: © UKE / Axel Kirchhof

Wenn über Digitalisierung im Krankenhaus geredet wird, fällt einem nicht als allererstes die Krankenhausapotheke ein. Wie wichtig ist die Digitalisierung für die Apotheke am UKE?
Wir machen seit über einem Jahrzehnt intensiv Automatisierungsprojekte, und die hatten und haben immer auch etwas mit Digitalisierung zu tun. Wir waren mit die erste Krankenhausapotheke, die 1995 ein automatisches Lagersystem eingeführt hat, das lief damals vermutlich noch unter Windows 95. Richtig los ging es dann 2003 mit der Umsetzung eines ambitionierten Plans zum Neuaufbau des seinerzeit schwer angeschlagenen Klinikums. Damals kam Jörg Debatin zu uns und hat dem ganzen Projekt das Siegel Digitalisierung aufgedrückt. Seither war klar, dass jede und jeder in leitender Position etwas beitragen musste. Das war auch die Zeit, als das Buch „To err is human“ gerade neu herausgekommen war und plötzlich öffentlich über Behandlungsfehler gesprochen werden konnte. Da war dann irgendwann klar: Wenn wir den Anspruch, das damals modernste Klinikum Europas zu werden, erfüllen wollen, dann brauchen wir auch den modernsten Arzneimittelversorgungsprozess.

Haben Sie zu diesem Zeitpunkt schon begonnen, ein Closed Loop Medication System einzuführen, also einen komplett digitalen Verordnungsprozess mit Einbindung der Arzneimittellogistik bzw. Materialwirtschaft (MaWi)?
Nicht sofort. 2007 haben wir begonnen, die Unit-Dose-Versorgung, also die patientenindividuelle Verblisterung der Medikamente, aufzubauen. Das war damals für ein Uniklinikum eine Revolution, aber es war noch kein Closed Loop. Dazu musste die digitale Patientenakte eingeführt und die elektronische Dokumentation der Arzneimittelgabe eingeführt werden. Ab 2011 hatten wir tatsächlich einen komplett digitalen Verordnungsprozess, den die Amerikaner „Closed Loop Medication Administration“ nennen. Wir waren es, die diesen Begriff in Deutschland salonfähig gemacht haben. Und ich bin auch ein bisschen stolz darauf, dass der Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA) diesen Prozess in die Verbandsziele aufgenommen hat.

Kommt Deutschland in dieser Hinsicht denn voran?
Tatsächlich war die Entwicklung in deutschen Krankenhäusern diesbezüglich sehr langsam. Wir haben kürzlich im Rahmen der ADKA eine Umfrage gemacht, danach liegt die Nutzung von elektronischen Verordnungssystemen unter 5o Prozent. In Deutschland haben lediglich 35 Krankenhausapotheken ein Unit-Dose-System eingeführt. Und das ist, wie gesagt, noch nicht der vollständige Closed Loop. Ich glaube, dass es mit den Fördermitteln aus dem Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) jetzt zu einem Schub kommt. Dass Krankenhausmedizin ohne digitale Akte keine Zukunft hat, haben alle begriffen. Dass zu einer digitalen Akte das digitale Medikationsmanagement gehört, macht das KHZG unmissverständlich deutlich. Der Schritt, dies an die automatisierte Medikamentenlogistik zu koppeln, ist dann nicht mehr so groß.

Ist bei Ihnen am UKE der Closed Loop komplett in allen Abteilungen umgesetzt?
Der ist flächendeckend für 1 700 Betten ausgerollt, ja. Es gibt noch kleine gallische Dörfer, wie z.B. die Kinderintensivmedizin. Das liegt daran, dass wir am UKE weiterhin kein einheitliches, alle Abteilungen umfassendes Informationssystem haben. Die Intensivmedizin hat ein eigenes PDMS, das über Schnittstellen mit der Krankenakte verbunden ist. Daraus ziehen wir unsere Verordnungsdatensätze, die wir für das Medikationsmanagement benötigen. Das funktioniert bei den Erwachsenen, aber bei den Kindern funktioniert es nicht, weil dort nicht Tabletten oder fixe Dosierungen verordnet werden, sondern individuell in Milligramm pro Kilogramm dosiert wird. Das betrifft aber nur die Kinderintensiv-
medizin, die normale Pädiatrie, die nicht das PDMS nutzt, erhält den vollen Service. Wir sind eine der ganz wenigen Kliniken, die einen Closed Loop auch in der Pädiatrie erfolgreich umgesetzt hat.

Was wären Ihre Empfehlungen an Krankenhäuser, die im Lichte des KHZG jetzt in Richtung elektronische Verordnung, Unit Dose und Closed Loop denken?
Eine wichtige Empfehlung ist: Es braucht ein Informationssystem, an das die Logistik angebunden werden kann, und ein MaWi-System, das Unit-Dose-fähig ist. Das ist aus unserer Sicht eine conditio sine qua non, und es geht nicht mit jedem System. Die Philosophie sollte sein, aus der ärztlichen Verordnung heraus alle Folgeprozesse ableiten zu können. Es reicht nicht, einfach nur singulär Paracetamol 500 mg zweimal am Tag digital eingeben zu können. Da sollte im Hintergrund gleich die Materialnummer verknüpft und der nötige logistische Prozess veranlasst werden können.

Wie kann in einem solchen digitalen Verordnungskosmos die Arzneimitteltherapiesicherheit verbessert werden?
Die Einführung eines elektronischen Verordnungs- und Dokumentationssystems hat per se einen positiven Einfluss auf die Arzneimitteltherapiesicherheit, weil es keine Transkriptionsfehler mehr gibt, keine unleserliche Handschrift und so weiter. Im Uniklinikum Freiburg wurde 2012 untersucht, wie die Einführung eines elektronischen Verordnungssystems ohne MaWi-Kopplung die Arzneimitteltherapiesicherheit beeinflusst. Die Kolleg:innen konnten zeigen, dass die sogenannte Diskrepanzrate um 17 Prozentpunkte sinkt, von 56 auf 39 Prozent. Diskrepanzen zwischen Verordnung und Arzneimittelgabe sind nicht automatisch Medikationsfehler, aber je höher die Diskrepanzrate, umso höher die Gefahr für mögliche echte Fehler. Wir haben diese Studie bei uns nachgemacht und konnten zeigen, dass die Diskrepanzrate bei einem Closed-Loop-System wie dem unseren nur noch 1,6 Prozent beträgt.

Nutzen Sie zusätzlich Decision Support Tools oder künstliche Intelligenz?

Was das angeht, ist unser System noch relativ dumm, sprich wir nutzen noch kein selbstlernendes System mit künstlicher Intelligenz. Die Basisfunktionen der arzneimittelbezogenen Entscheidungsunterstützung sind aber alle vorhanden: Checks auf Interaktionen, Vorschläge für Dosisadaptation bei Organdysfunktion, Warnungen bei Doppelverordnungen oder bei Überschreitung der Tageshöchstdosis. Solche Sachen werden frontal angezeigt, andere digitale Abgleiche mit der Fachinformation laufen im Hintergrund und sind mit einem Ampelsystem hinterlegt. Wir müssen immer aufpassen, dass wir nicht Alert-Fatigue erzeugen, wenn wir zu viele Fenster produzieren, die einfach nur weggeklickt werden. Bei aller Elektronik ist es immer auch wichtig, den Faktor Mensch nicht aus den Augen zu verlieren. Wir lassen jede einzelne Verordnung am UKE durch Apotheker:innen validieren, das sind mehr als eine halbe Million manuelle Medikationsanalysen pro Jahr. Pro Woche kommen wir auf rund tausend pharmazeutische Interventionen, die wir auch dokumentieren und aus denen sich dann lernen lässt.
 
Wie genau geben die Apotheker:innen Feedback? Funktioniert das auch digital?
Wir haben mehrere Ebenen. Es gibt zum einen eine Chat- und Hinweisfunktion. Die Kolleg:innen sehen sich die Verordnungen nach bestimmten Rastern an und können dann direkt im IT-System Hinweise dazu schreiben. Darüber hinaus besuchen sie jede Station einmal am Tag. Der persönliche Kontakt ist wichtig. Er ist zum einen vertrauensfördernd, zum anderen offenbaren sich im persönlichen Gespräch mitunter auch Dinge, die aus der Dokumentation nicht unmittelbar ersichtlich sind.

Kommen wir zum E-Rezept. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat die Einführung jetzt erst einmal verlängert bzw. die feste Frist gekippt, dennoch steht diese Neuerung ins Haus. An welcher Stelle sind Krankenhäuser bzw. Krankenhausapotheken betroffen?
Im Krankenhaus ist das E-Rezept zunächst einmal ein Ambulanzthema. Allerdings wurde von der gematik
etwas unterschätzt, welche Auswirkungen es dann doch haben kann. Worum geht es? Es geht darum, das Muster 16 in den Ambulanzen abzulösen. Benötigt wird das zum einen beim sogenannten Entlassrezept: Patient:innen, die in das Entlassmanagement einwilligen, haben Anspruch darauf, dass wir ihnen entweder Medikamente mitgeben oder ein Entlassrezept ausstellen, das dann in öffentlichen Apotheken eingelöst werden kann. Wenn Krankenhäuser künftig gezwungen werden, E-Rezepte zu nutzen, dann muss das diesen Bereich umfassen. Fehlerfrei geht das aber nur, wenn die Medikamente strukturiert dokumentiert sind und wenn die Aufnahmemedikation mit der Entlassmedikaton abgeglichen wurde. Am Ende sollen die Patient:innen ja nicht nur ein E-Rezept erhalten, sondern möglichst auch einen bundeseinheitlichen Medikationsplan, und beides sollte dann schon kongruent sein.


Das wären dann interne Prozesse im Krankenhaus. Gibt es bei den Spezifikationen Probleme? Kann das E-Rezept Krankenhausambulanzmedizin?

Erst einmal muss einem klar sein, dass wir zumindest in den Universitätsklinika von einer enormen Zahl an Patient:innen reden. Am UKE versorgen wir pro Jahr rund 500 000 Patient:innen, davon 400 000 ambulant. Nun ist es so, dass in den Spezialambulanzen nicht nur Arzneimittel für den häuslichen Gebrauch verordnet werden, sondern auch zum Beispiel Zytostatika und Biologika, die direkt vor Ort gegeben werden. Die kommen aus der Krankenhausapotheke, werden auf Muster 16 verordnet und über die Krankenkassen wie ambulante Leistungen abgerechnet. Wir haben uns bei der ADKA hingesetzt und die E-Rezept-Spezifikation der gematik durch die Krankenhausbrille angesehen. Dabei stellten wir fest, dass doch so ein paar Dinge nicht bedacht wurden, die für uns unverzichtbar sind.

Nämlich?

Das eine ist das Thema Workflow-Steuerung durch Leistungserbringer. Dabei geht es darum, dass Ärzt:innen in onkologischen Praxen oder eben Klinikambulanzen Rezepte den Apotheken, die Zytostatika zubereiten, zuweisen. Das ist gesetzlich erlaubt, aber es braucht einen Workflow, und der muss dann auch digital abgebildet werden. Wenn das E-Rezept für das Zytostatikum wie jedes normale E-Rezept auf die TI geladen wird, dann bestünde die Gefahr, dass der Token anderswo eingelöst wird, obwohl das Medikament bereits appliziert wurde. Das wurde zu Beginn nicht berücksichtigt und erst im Winter 2021/22 so spezifiziert, dass es funktionieren kann. Das zweite, noch immer ungelöste Problem ist ebenfalls ein Workflow-Thema: Der Deutsche Apothekerverband DAV verhandelt mit dem GKV Spitzenverband ambulante Arzneimittelverträge, und im Rahmen dieser Verträge muss die Chargennummer dokumentiert werden. Im normalen, ambulanten Bereich ist das kein Problem, da schreiben die Praxen das Rezept und die Apotheken scannen vor der Abgabe den Barcode. Das funktioniert im Krankenhaus aber nicht, weil die Krankenhausapotheke Medikamente an die Ambulanzen zur dortigen Applikation abgibt. Die Apotheke kann die Chargenbezeichnung demnach nicht patientenbezogen erfassen. Soll das E-Rezept fliegen, muss es für diese Sonderkonstellation im Krankenhaus eine Lösung geben, denn dafür gibt es noch nicht mal einen analogen Prozess, den man digitalisieren könnte.

Wie sieht es generell bei den Rezepten für Zubereitungen aus? Das betrifft ja nicht nur die Krankenhäuser, aber die besonders: Ist das mit dem E-Rezept abbildbar?
Bei den Zubereitungen, die in der Apotheke hergestellt werden, zum Beispiel Zytostatika, muss man zwischen der ärztlichen Anforderung und dem abrechenbaren Rezept unterscheiden.  Das Muster 16 wird erst erstellt, nachdem die Anforderung auf Plausibilität geprüft wurde. Dabei ergeben sich oft Änderungen der Dosierung, des Volumens oder der verwendeten Hilfsstoffe. Eine Erstellung des E-Rezepts im Nachhinein war zunächst nicht vorgesehen. Nach intensiver Diskussion ist dies nunmehr möglich.
Allerdings verstehen die wenigen Hersteller von Softwareprogrammen für die Zytostatikazubereitung ihre Produkte als reine Workflow-Programme, die nicht über Funktionen zur KBV-zertifizierten E-Rezepterstellung verfügen werden. Das wiederum bedeutet, dass der Datensatz der Zytostatikaprogramme über eine standardisierte und definierte Schnittstelle in ein Programm übertragen werden muss, das ein E-Rezept erstellen kann. Langer Rede kurzer Sinn: Wir sind beim E-Rezept noch längst nicht am Ende. Aber ich möchte an dieser Stelle trotzdem betonen wollen, dass das E-Rezept, so wie es bisher vorliegt, handwerklich wirklich gut gemacht ist. Es ist halt ein komplexes Thema und es fehlen noch ein paar Dinge, die aus unserer Sicht Stolpersteine werden könnten. Aber das ist alles lösbar. Seitens der ADKA haben wir dazu ein 3-Punkte-Papier erarbeitet, das sauber aufführt, was genau fehlt. Auch wir möchten das Rezept gern so bald wie möglich digital sehen.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal zurückkommen auf das Thema Entlassrezepte und Bundeseinheitlicher Medikationsplan. Es ist ja ein Problem der deutschen Healthcare-Digitalisierung, dass diese ganzen Anwendungen irgendwie nebeneinanderher entwickelt werden. Würden Sie sagen, dass bei Entlassung noch mal ein Pharmazeut sozusagen zur Qualitätssicherung eingebunden werden sollte?
Sie sprechen mir da aus dem Herzen. Ich bin absolut dafür, dass wir an den intersektoralen Schnittstellen Krankenhausapotheker platzieren, und ich habe das am UKE auch ganz aktuell wieder beim Vorstand angeregt. Zumindest in den operativen Fächern würde ich es für sehr sinnvoll halten, wenn es zusätzliche, systematische Medikations-Checks durch Fachpersonal gäbe. Der Zeitbedarf für so ein Gespräch liegt bei 10 bis 15 Minuten, in dieser Zeit können wir „zerschossene“ Medikationspläne auf den neuesten Stand bringen. Ich bin überzeugt, dass davon am Ende nicht nur die Patient:innen, sondern auch die Kostenträger profitieren. Es gab ja irgendwann mal die Sorge, dass die Digitalisierung uns Krankenhausapotheker überflüssig machen würde. Das Gegenteil ist der Fall: Je komplexer die Prozesse werden, umso wichtiger werden wir für das Datenmanagement rund um die Medikation.



Das Interview führte Philipp Grätzel von Grätz, Chefredakteur E-HEALTH-COM.