KI ist eine disruptive Technologie, die es nicht erst seit wenigen Jahren gibt, sondern schon seit Jahrzehnten. Allerdings sind ihre Potenziale und Möglichkeiten durch deutliche Steigerungen in den infrastrukturellen Gegebenheiten erst in der letzten Dekade deutlich für jedermann sichtbar geworden – spätestens mit dem internationalen Launch von ChatGPT im Bereich der generativen KI.
Diese Disruption führt dazu, dass zurzeit viele verschiedene Aspekte in Prozessen, Produkten und generell im Lebensalltag grundlegend überdacht werden (können). Insbesondere im Gesundheitswesen können wir von Möglichkeiten profitieren, die Mediziner:innen, Pfleger:innen, Therapeut:innen und noch vielen weiteren Stakeholdern Tools an die Hand geben, die nachhaltig das Gesundheits- und Pflegewesen unterstützen und verbessern können. Dies beginnt bei einer großflächigen verbesserten Versorgung durch unterstützende Systeme im Bereich Screening, Monitoring und auch Diagnostik und führt weiter in den Bereich der Individualisierung und Präzisionsmedizin. Da nicht nur Patient:innen im Fokus dieser Möglichkeiten stehen sollten, sondern insbesondere auch das medizinische Personal sowie tägliche Herausforderungen, sind auch hier Potenziale zur Verbesserung der aktuellen Situation durch den Einsatz von KI möglich.
Menschliche Stimme liefert bis zu 7 000 Biomarker
Viele Menschen haben noch immer Angst und Bedenken hinsichtlich der Nutzung von KI im medizinischen Alltag. Diese Angst gilt es zu nehmen, da es nicht darum geht, den Kontakt und die Leistungen der Ärztinnen und Ärzte zu ersetzen, sondern vielmehr darum, sie zu unterstützen – auch durch den eigenen, persönlichen und informierten Umgang mit KI-Tools im medizinischen Kontext. Künftig wird sich sowohl vonseiten der Patient:innen als auch der Ärztinnen und Ärzte der Unterschied dergestalt darstellen, dass diejenigen, die KI verstehen und damit umgehen können, deutlich im Vorteil gegenüber jenen sein werden, die sich nicht oder nur rudimentär damit auseinandersetzen. Die Medizin der Zukunft nutzt Künstliche Intelligenz, um medizinisches Fachpersonal zu entlasten und Patient:innen holistischer versorgen zu können.
Gerade der Bereich der KI-gestützten Stimmanalyse bietet jetzt schon beeindruckende Innovationsmöglichkeiten, die vor 20 Jahren noch undenkbar gewesen wären. Stimmanalyse-Technologie, die State of the Art Deep-Learning-Algorithmen nutzt und auch als Tool in Kombination mit gängigen LLMs wie ChatGPT eingesetzt werden kann, bietet tiefe Einblicke in den stimmlichen Ausdruck und die Zustände bzw. bestimmte Merkmale von Patient:innen. Sie funktioniert unter anderem durch die Untersuchung von bis zu 7 000 Biomarkern aus der menschlichen Stimme wie Lautstärke, Klangfarbe, Rhythmus oder das Sprech-Pause-Verhältnis. Diese werden dann durch KI-Algorithmen, die Muster und gegebenenfalls auch Abweichungen identifizieren, analysiert, um so Rückschlüsse auf den stimmlichen Ausdruck und den (gesundheitlichen) Zustand der sprechenden Person zu ziehen.
Da die menschliche Sprachproduktion an sich ein sehr komplexes und umfangreiches System darstellt, ergeben sich hierbei breite Untersuchungsmöglichkeiten in Zusammenhang mit einer Vielzahl von möglichen Krankheitsbildern, insbesondere im neurologischen, aber auch im psychologischen und respiratorischen Bereich. Ebenso sind Sprachstörungen durch die Technologie analysierbar. Die gesammelten und interpretierten Ergebnisse können in verschiedenen Bereichen des Gesundheitssystems auf ganz vielfältige Art und Weise genutzt werden. In der Diagnostik unterstützt die Stimmanalyse Mediziner:innen, indem sie zusätzliche Informationen liefert, die durch herkömmliche Untersuchungsmethoden nicht erfasst werden können. Insbesondere Informationen zu longitudinalen Entwicklungen können einen wesentlichen Beitrag zur Abklärung bestimmter Merkmale bereitstellen. So kann die Technologie schon vor einer Diagnose sehr effizient als Screening-Tool genutzt werden, aber auch als Monitoring-Tool danach. Durch die Aufzeichnungen in einem Audio-Tagebuch sind kurz-, mittel- und langfristige Entwicklungen sichtbar und die therapeutischen Maßnahmen können dadurch besser abgestimmt werden.
Frühdiagnostik und Monitoring sind vielversprechend
Veränderungen in der Stimme können unter anderem auf respiratorische Erkrankungen oder neurologische Probleme hinweisen. Hier werden subtile Anzeichen genutzt, die Menschen selbst überhaupt nicht hören können. Abweichungen in den Stimmlippenschwingungen und im Sprech-Pause-Verhältnis zum Beispiel können auf eine COVID-19-Erkrankung hindeuten. Auch Hinweise auf Symptome wie Fatigue, die unter anderem bei psychischen und neurodegenerativen Erkrankungen auftauchen können, werden durch geführte Sprachtests mit Stimmbiomarkeranalyse spezifischer zugeordnet. Ziel hierbei ist auch, bessere Abgrenzungen durchführen zu können, wie beispielsweise in der Abklärung von Motivationsschwäche oder Interesselosigkeit, auch im Zusammenhang mit einer möglichen Depression. Durch die Übermittlung und Interpretation der Ergebnisse können Mediziner:innen Rückschlüsse auf Zustände wie Burnout, Depression und Stress ziehen und so frühzeitig intervenieren und weiterführende Behandlungen empfehlen. Bei Erkrankungen wie Demenz oder Multipler Sklerose können durch die zusätzliche Analyse der Stimme motorische und kognitive Anomalien effizienter erkannt werden, insbesondere in der mittel- und langfristigen Betrachtung. Das liegt in der Natur der leichten Einsetzbarkeit der Technologie, da die geführten Sprachtests im Audio-Tagebuch einfach von den Patient:innen selbst auf dem Handy oder Laptop von zu Hause aus gemacht werden können. Mögliche Fehlerquellen (beispielsweise eine zu laute Umgebung, ein unbrauchbares Audiosignal) werden durch die Technologie bereits vorneweg extrahiert.
Ziel ist es, durch die Stimmbiomarker und verwandte KI-Technologien Krankheiten früher und effizienter zu erkennen, zu verfolgen und, wenn nötig, auch langfristig zu überwachen. Dies wiederum soll vitaler Bestandteil für eine individualisierte Therapie und verbesserte Self-Awareness der Patient:innen werden, denn auch während der Therapie kann die Stimmanalyse zur Überwachung des Therapieerfolgs genutzt werden. Indem die Stimme der Patient:innen regelmäßig analysiert wird, können Fort- oder Rückschritte in der Therapie dokumentiert und gegebenenfalls Anpassungen vorgenommen werden. Nicht nur die KI, sondern die Patient:innen selbst können sich dadurch besser kennenlernen.
Auch soziale Robotik kann profitieren
Ein weiterer, bedeutender Anwendungsbereich ist zurzeit die Entwicklung empathischer (Chat)Bots und Roboter für das Gesundheits- und Pflegewesen. Diese Systeme analysieren nicht nur die gesprochenen Worte, sondern erfassen auch den stimmlichen Ausdruck der sprechenden Person und gehen auf diesen ein. Durch die Analyse der Stimme erkennen sie beispielsweise, ob ein:e Patient:in gestresst, ängstlich oder depressiv ist, und bieten daraufhin individuell angepasste Unterstützung an. Diese Fähigkeit ermöglicht eine natürlichere, authentischere und menschlichere Interaktion zwischen Patient:in und Maschine und zeigt besonders in der Pflege ein riesiges Potenzial auf. Ebenso ist es Ziel, Stressmomente in der Mensch-Maschine-Kommunikation deutlich zu reduzieren.
So kann nicht nur das Wohlbefinden von Patient:innen verbessert, sondern auch das medizinische Fachpersonal entlastet werden. Auch hier ist es beispielsweise denkbar, die kognitive Last oder das Stressmoment des Fachpersonals als ausschlaggebendes Kriterium für ein intelligentes „Routing“ der Patient:innen zu wählen oder die optimalen Therapeut:innen zu finden. Das klingt eventuell noch sehr futuristisch, ist aber realistisch und im nichtmedizinischen Bereich bereits Alltag. In Callcentern wie auch in der Marktforschung wird KI-Technologie bereits eingesetzt, um Stressmomente bei Callcenter-Agenten zu reduzieren und die Kundenzufriedenheit auf der anderen Seite zu steigern. Aktuell werden humanoide Roboter entwickelt und mit KI-Technologie ausgestattet, die in der Kommunikation allgemein, aber auch im Gesundheits- und Pflegebereich, vielfältig eingesetzt werden können.
Nicht nur in Gesundheitseinrichtungen, sondern auch im häuslichen Bereich kann der Einsatz von KI-basierter Stimmanalyse die Patienten-Journey grundlegend transformieren. Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) sowie digitale Pflegeanwendungen (DiPA) gewinnen zunehmend an Bedeutung. Bereits in der Präventionsphase können Systeme, die KI-gestützte Stimmanalyse einsetzen, wertvolle Hinweise auf eventuelle gesundheitliche Probleme liefern. So könnten Patient:innen selbst Routineaufgaben übernehmen, für die sie normalerweise zu Hausärztin oder Hausarzt fahren müssten. Durch regelmäßige Stimmaufnahmen und deren automatisierte Analyse können unter anderem subtile Veränderungen in der Stimme erkannt werden, die auf beginnende Erkrankungen hinweisen. Dies ermöglicht eine frühzeitige Erkennung von Anzeichen von gesundheitlichen Problemen, die bei Bedarf automatisch an die behandelnde Ärztin oder den Arzt übermittelt werden können. So können Zeit und Ressourcen gespart und eine effizientere Betreuung der Patient:innen ermöglicht werden, ohne Einbußen in der Behandlungsqualität in Kauf nehmen zu müssen. Besonders für chronisch Erkrankte oder Patient:innen, die in ländlichen Gebieten leben bzw. Schwierigkeiten haben, regelmäßig medizinische Einrichtungen aufzusuchen, kann dies die flächendeckende Versorgung erheblich verbessern.
Zugang ermöglichen statt auszubremsen
Um diese Entwicklungen frühzeitig und großflächig voranzutreiben, braucht es aber nicht nur innovative Unternehmen, die Anwendungen erdenken, entwickeln und umsetzen, sondern auch die Unterstützung von potenziellen Anwender:innen in der Gesundheitsversorgung und Politik. Potenzielle Anwender:innen wie Ärztinnen und Ärzte, Therapeut:innen, Krankenhäuser und Gesundheitszentren sollten positiv Möglichkeiten eruieren, wie sich diese Technologien im medizinischen Alltag bestmöglich einsetzen lassen. Die Politik muss klare Rahmenbedingungen schaffen und Benchmarks definieren, um den sicheren und ethisch verantwortungsvollen Einsatz von KI-Technologien zu gewährleisten, insbesondere im Hinblick auf die aktuelle KI-Verordnung und dahingehend, dass KI-Systeme hierzulande ohne qualitativ hochwertige Daten nicht wettbewerbsfähig sind. Es ist wichtig, den Zugang zu solchen Technologien für alle Bevölkerungsschichten zu ermöglichen, um gesundheitliche Ungleichheiten zu verringern. Denn durch gezielte Investitionen in Forschung und Bildung sowie durch den Abbau regulatorischer Hürden kann die Politik einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass KI im Gesundheitswesen ihr volles Potenzial entfaltet und sowohl Patient:innen als auch dem medizinischen Personal zugutekommt.