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KI: Lebensgefahr für den Pathologen?

Dr. Data ist auf dem Vormarsch und die diagnostischen Fächer sind seine ersten Opfer. Wirklich? Wer den Einsatz von KI und Maschinenlernen in der Pathologie mit Sachverstand analysiert, erkennt die großen Chancen, aber auch die Grenzen der algorithmengestützten Diagnostik. KI kann die Pathologie in Richtung quantitative Prä­zi­sions­medizin voranbringen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Bild: © aleutie – stock.adobe.com

Einen „Dr. Data“ zu schaffen ist eines der Versprechen der aktuellen Entwicklungen der Künstlichen Intelligenz (KI) in der Medizin. Ein quasi entsprechend dem aktuellen Stand des medizinischen Wissens umfassend gebildeter „Computer-Arzt“, der schnell und präzise arbeitet, ohne Fehler zu machen. Allerdings bleibt es bisher unklar, welche Rolle dieser Dr. Data in der Krankenversorgung übernehmen könnte. Kann er Ärzte ersetzen? Fachrichtungen wie die Chirurgie oder andere interventionelle Tätigkeiten scheinen hier zumindest mittelfristig weniger in Gefahr als Gebiete, in denen primär wissensbasiert gearbeitet wird, was neben zum Beispiel Onkologen insbesondere die diagnostischen Fachrichtungen wie Radiologie oder Pathologie betrifft. Aber, um hier ein konkretes Beispiel zu diskutieren, wäre ein Dr. Data als Facharzt für Pathologie wirklich denkbar?


Auch wenn solche Szenarien für die Zukunft sicherlich zu diskutieren sind, ist es auf absehbare Zeit unrealistisch, dass Pathologen durch KI-Systeme ersetzt werden können. So etwas wäre vielleicht denkbar, bestünde die pathologische Diagnose lediglich in dem Berichten von in histologischen Bildern quantitativ erhobenen Messwerten, beispielsweise Zell(kern)zahlen oder der Variabilität der Zellgrößen und -formen. Die computergestützte Erhebung solcher Parameter ist allerdings nicht erst durch die aktuellen Verfahren des maschinellen Lernens  (ML) möglich. Schon seit Computer verfügbar sind, seit vier Jahrzehnten, werden solche Anwendungen in Zytologie und Histologie entwickelt. Auch wenn diese automatische Mikroskopbildanalyse limitiert war durch begrenzte Rechenleistung, Speicherkapazität und Qualität der Bilddigitalisierung und damit für den diagnostischen Routineeinsatz nicht infrage kam, können mit konventionellen Verfahren aus der digitalen Bildanalyse bzw. der digitalen Pathologie schon seit vielen Jahren morphologische Merkmale aus histologischen Bilddaten berechnet werden. Trotzdem ist man weit davon entfernt, mit solchen Verfahren die histologische Diagnostik automatisieren zu können.


Maschinelles Lernen kann bei Analyse komplexer Gewebeeigenschaften helfen

Dies liegt daran, dass der entscheidende Aspekt einer pathologischen Diagnose in der Integration und Interpretation der sehr heterogenen histomorphologischen (und molekularen) Eigenschaften im Kontext des Ursprungsorgans und der klinischen Situation besteht. Klinisch relevante pathologische Veränderungen des Gewebes finden auf sehr unterschiedlichen Skalen von Eigenschaften einzelner Zellen bis hin zur Gewebearchitektur statt, die wiederum miteinander in Beziehung gesetzt werden müssen, um z. B. eine zuverlässige qualitative Einschätzung erlangen zu können, ob ein Tumor gut- oder bösartig ist.  


Bei der Analyse solcher komplexeren heterogenen Gewebeeigenschaften können nun allerdings Verfahren des maschinellen Lernens einen wesentlichen Fortschritt gegenüber der konventionellen Bildanalyse bedeuten, da hierdurch zelluläre Eigenschaften und größerskalige Gewebearchitektur gemeinsam auswertbar sind. Denn im Vergleich zur konventionellen Bildanalyse, bei der Modellannahmen über die zu segmentierenden Objekte gemacht werden müssen und zelluläre und architekturelle Eigenschaften separat analysiert werden müssen und nur schwierig (durch weitere Modellannahmen) kombinierbar sind, können mit ML-Verfahren heterogene histologische Eigenschaften bei geeigneter Auswahl der für das Training verwendeten Bildausschnitte besser kombiniert werden.


Unvollständige Trainingsdatensätze sind ein großes Problem
Nichtsdestotrotz stellt sich zumindest mittelfristig nicht die Frage, ob solche KI-Verfahren den  Pathologen ersetzen, was einerseits daran liegt, dass KI-Verfahren sehr aufwendig trainiert werden müssen. Da angesichts der Vielzahl an Krankheiten und assoziierten diversen und häufig subtilen histomorphologischen Veränderungen im Vergleich zu Varianten gesunden Gewebes ein umfassendes Training selbst für einzelne Krankheitsentitäten extrem aufwendig ist und dies gleichzeitig nur von Pathologen selbst durchgeführt werden kann, ist aktuell noch kein System verfügbar, was eine relevante Zahl an Krankheiten zuverlässig diagnostizieren kann. Auch würde ohne Experten so ein einmal trainiertes System auf einem Wissensstand stehen bleiben, denn von wirklich selbst weiter lernenden Systemen auf dem Niveau eines Menschen ist man noch weit entfernt.


Außerdem stellt ein unvollständiger Trainingsdatensatz mit nur einem Teil der möglichen Differenzialdiagnosen ein Problem dar, da dem Computer unbekannte pathologische Veränderungen einer dem Klassifikator bekannten, aber falschen Entität zugeordnet würden. Der Computer sucht sich einfach die nächstähnliche Klasse aus, auch wenn für einen menschlichen Experten offensichtlich wäre, dass die Zuordnung falsch ist. Auch wenn Verfahren entwickelt werden, solche sog. Ausreißer zu detektieren, ist hier die Entwicklung noch nicht für einen diagnostischen Routineeinsatz ausgereift.

Gewebeagnostische Tumorklassifikation entpuppte sich als Fehlschlag
Ein eindrucksvolles Beispiel solcher Fehlklassifikationen aufgrund von unzureichenden Trainingsdaten im Bereich der Molekularpathologie ist in einer im Journal „Cell“ publizierten Arbeit (Hoadley et al., 2014 und 2018) zu finden. Die Autoren schlagen eine Histologie-agnostische molekulare Tumorklassifikation basierend auf umfassenden „omics“-Daten vor, bei der molekulare Klassen zwar einen dominanten Histotyp besitzen, es jedoch zahlreiche Reklassifikationen basierend auf den molekularen Daten gibt.
Diese Reklassifizierungen wurden von uns anhand der originalen Bilddaten überprüft, und sie sind bei genauerem Hinsehen längst nicht so eindrucksvoll wie suggeriert, und häufig sind sie schlicht falsch. So werden Blasen- und Mammakarzinome basierend auf den molekularen Profiling-Daten teilweise einer molekularen Klasse „Plattenepithel-artig“ zugeordnet. Bei diesen Fällen erkennt man eine plattenepitheliale Differenzierung der Tumore bereits einfach am histomorphologischen Schnittpräparat.


Ein anderes Beispiel reklassifiziert ein vermeintliches Plattenepithelkarzinom der Lunge in ein Glioblastom. Eine Re-Evaluierung der Histologie zeigt, dass hier statt eines nichtkleinzelligen Lungenkarzinoms offensichtlich ein neuroendokriner Tumor der Lunge vorliegt. Da allerdings in der Trainingskohorte keine neuroendokrinen Tumoren enthalten waren, entscheidet sich der Klassifikator für das Glioblastom als einzigen ähnlichen Tumor mit neurogenen Eigenschaften.

 

Ein weiteres Beispiel ist die vermeintliche, molekular begründete Reklassifizierung eines Mammakarzinoms in die molekulare Klasse, die charakteristisch für akute myeloische Leukämien (AML) ist. Ein Blick auf das histologische Präparat zeigt ein lymphozytenreiches Mammakarzinom, bei dem der epitheliale Tumoranteil im für die molekulare Analyse verwendeten Material nur einen kleinen Anteil ausmacht, während fast die Hälfte des Gewebes von Lymphozyten eingenommen wird. Da der Klassifikator nicht mit normalem lymphatischem Gewebe trainiert wurde, wurde hier wiederum eine der Lymphozyten-Signatur ähnliche molekulare Klasse gewählt – und der Tumor völlig verkehrt als Leukämie statt als lymphozytenreiches Karzinom eingeordnet.

Der Black-Box-Charakter
konventioneller ML-Verfahren ist problematisch Diese Beispiele weisen auf zwei für den Einsatz der KI in der Pathologie, aber auch generell in der Medizin entscheidende Aspekte hin. Erstens ist ein umfassendes Training nicht nur pathologischer Eigenschaften, sondern auch physiologischer Merkmale entscheidend für eine korrekte Klassifikation. Dies macht die Komplexität der Aufgabe deutlich, da es zwar eine überschaubare Anzahl an häufigen Erkrankungen gibt, aber sehr viele seltene Pathologien, die ein ML-Diagnostik-Tool auch zuverlässig erkennen können muss. Insbesondere bei seltenen histopathologischen Veränderungen ist es wiederum sehr aufwendig, eine entsprechende Anzahl an Trainingsdaten zu bekommen.


Zweitens zeigen die Beispiele der Fehlklassifikation an, wie problematisch der Black-Box-Charakter konventioneller ML-Verfahren ist. Ist der Prozess der Klassifikation nicht für den Anwender transparent, ist es schwierig, die Entscheidung des Computers zu verifizieren. Diese fehlende Möglichkeit, ein diagnostisches Ergebnis auf Plausibilität zu prüfen, ist medizinisch inakzeptabel.


Hier können Verfahren der erklärbaren bzw. interpretierbaren KI (explainable AI) einen entscheidenden Beitrag leisten. Dieser Ansatz ermöglicht es, den Entscheidungsprozess der Lernmaschine nachvollziehbar zu machen. Dabei kann der Algorithmus aus den zur Vorhersage zur Verfügung stehenden Informationen die Datenpunkte identifizieren, die den größten Beitrag zur Entscheidung beigetragen haben. Bei Bilddaten kann man so auch bei Training mit größeren Bildausschnitten hochaufgelöste Wahrscheinlichkeitskarten („heatmaps“) erzeugen, die z. B. die genaue Lokalisation der Krebszellen oder Tumor-infilt­­rierenden Lymphozyten anzeigen und durch Kombination mit dem Originalbild dem Pathologen ­eine schnelle Plausibilitätsprüfung ­ermöglichen, ob die für die Quantifizierung verwendeten Ergebnisse adäquat sind.

Diagnostik wird quantitativer, schneller und präziser
Auch solche Verfahren des erklärbaren maschinellen Lernens werden so schnell keinen Pathologen ersetzen können, aber in Form von Assistenzsystemen in Zukunft einen wesent­lichen Beitrag dazu leisten, die pathologische Diagnostik quantitativer, schneller und noch präziser zu ­machen. Während schwierige Einschätzungen und Grenzfälle bezüglich der Dignität oder Entität eines Tumors die Kernkompetenz des Pathologen bleiben, kann KI dabei helfen, quantitative Gewebeeigenschaften standardisiert auszuwerten und z. B. Präparate mit hoher Sensitivität vorzuscreenen, um die suspekten Gewebeanteile besonders hervorzuheben. Auch können ML-Verfahren morphologische und molekulare Eigenschaften miteinander verbinden und auch hier dazu beitragen, eine Vorauswahl der für aufwendigere molekulare Untersuchungen zu priorisierenden Fälle zu treffen.


Ganz im Gegensatz zu den am Anfang des Artikels diskutierten Ängsten, dass KI eine Einschränkung der ärztlichen Tätigkeit bedeutet und womöglich in Zukunft ein Dr. Data den menschlichen Ärzten die Arbeit abnimmt, hat KI das Potenzial, die Medizin insgesamt und nicht zuletzt die Pathologie wesentlich in Richtung quantitative Präzisionsmedizin voranzubringen und über Anwendungen in den einzelnen Disziplinen hinaus einen Beitrag zur Integration und effizienten Nutzung aller relevanten Daten zum Patientenwohl zu leisten.