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KI und der weite Weg in die Klinische Routine

Das Gesundheitssystem steht derzeit unter enormem finanziellem und personellem Druck. Künstliche Intelligenz hat das Potenzial, Ärzten die notwendigen Werkzeuge an die Hand zu geben, um den stetig steigenden Herausforderungen gerecht zu werden und gleichzeitig Fehler in der Diagnostik zu vermeiden.

Quelle: © WavebreakMediaMicro – stock.adobe.com

Die Herausforderungen, vor denen das Gesundheitssystem und jeder einzelne Leistungserbringer täglich stehen, sind enorm: die stetige Zunahme der Untersuchungs- und Behandlungszahlen, die steigende Anzahl von Patienten mit chronischen Erkrankungen und  Co- bzw. Multi-Morbiditäten, die zunehmende Komplexität in der Diagnose und Therapieentscheidung mit der rapide steigenden Anzahl relevanter Studien, möglicher Klassifikationen, Therapien und Behandlungsmethoden. Gleichzeitig leidet die Gesundheitsversorgung unter Fachkräftemangel. Hier entstehen also derzeit Engpässe, die die öffentliche Gesundheit vor große Herausforderungen stellen. [1]


Künstliche Intelligenz (KI) hat das Potenzial, Ärzten die notwendigen Werkzeuge an die Hand zu geben, um diesen steigenden Anforderungen gerecht zu werden und gleichzeitig Fehler in der Diagnostik zu vermeiden. In den letzten Jahren haben sich zahlreiche Ansätze für die automatisierte medizinische Bildanalyse herausgebildet. Derzeit entwickeln weltweit mehr als 200 Start-ups und KMUs sowie unzählige universitäre Arbeitsgruppen spezialisierte KI-Algorithmen, die bestimmte Auffälligkeiten mit Bildverarbeitungsalgorithmen erkennen, segmentieren und quantifizieren können.
Künstliche Intelligenz bietet somit große Chancen für die diagnostische Medizin, durch Automatisierung und Standardisierung eine evidenzbasierte Verbesserung der Produktivität und Patientenversorgung zu erzielen.

 

KI wird die Rolle der behandelnden Ärzte dabei nicht ersetzen, sondern ihnen hochpräzise Instrumente zur Verfügung stellen, um Krankheiten besser und schneller zu erkennen, Risiken zu bewerten und die patientenspezifische, personalisierte Behandlung zu optimieren. [2] Algorithmen werden automatisch bestimmte Parameter aus diagnostischen Bildern extrahieren, quantitative Analysen vornehmen und die Ergebnisse in Echtzeit mit großen Datenbanken bekannter Bildparameter abgleichen. Behandlungsentscheidungen werden hingegen nach wie vor von Ärzten getroffen. Ziel ist die Entwicklung digitaler Entscheidungshilfen und Assistenzsysteme in der personalisierten Medizin.

 

Dementsprechend formulierte das Hightech-Forum kürzlich die Förderung der Entwicklung von digitalen Entscheidungshilfesystemen zum Ausbau der Präzisionsmedizin als eine seiner zentralen Empfehlungen. Die Erleichterung patientenzentrierter, individueller Therapieplanungen mittels intelligenter Analysemethoden stehen dabei im Zentrum des Einsatzes der KI in der medizinischen Diagnostik. [3]


Entscheidend für den Wirtschaftsstandort Deutschland und unser Gesundheitswesen ist, dass wir unter bzw. zur Wahrung unserer hohen sozialen Standards und Patientenrechte bei diesen Entwicklungen im internationalen Wettbewerb eine führende Rolle übernehmen. Deutschland betreibt exzellente Forschung im Bereich KI. Wir liegen im internationalen Vergleich auf Platz 6 der Länder mit den meisten Forschungsergebnissen im Bereich Künstliche Intelligenz. [4] Zahlreiche universitäre und außeruniversitäre Arbeitsgruppen konnten hier in den letzten Jahren international anerkannte Ergebnisse erzielen. Trotz dieser exzellenten, international führenden Erfolge schaffen es nur wenige Lösungen in die Anwendung.


Dieses Phänomen ist allerdings auch außerhalb Deutschlands zu beobachten. Die künstliche Intelligenz in der Medizin steht damit an ähnlicher Stelle wie die Elektromobilität – technisch validiert, aber es fehlt die Reichweite und Infrastruktur, um den Einsatz im Alltag zu ermöglichen. Welche Aufgaben hätte diese KI-Infrastruktur in der Medizin konkret?


Zum einen müssen Lösungen bereitgestellt werden, die die Entwicklung und das Training von KI skalierbarer machen, zum anderen bedarf es der Integration von KI in die bestehende IT-Infrastruktur, um die Nutzung von KI effizient zu machen.


Drei Schritte für besseren Datenzugang und Datenqualität
Die Aufbereitung klinischer Daten für das KI-Training erfolgt heute durch medizinische Zentren, hauptsächlich im Rahmen öffentlich geförderter Projekte, meist mit erheblichen Einschränkungen für die kommerzielle Datennutzung. Um eine nachhaltige, von Förderung durch die öffentliche Hand weitgehend unabhängige Finanzierung dieses Prozesses zu gewährleisten, müssen daher Insentivierungsmodelle geschaffen werden, die Anreize für Kliniken und medizinische Zentren schaffen, qualitativ hochwertige Datensätze zu erstellen und sicher zur Verfügung zu stellen.


Um Daten für die Entwicklung und das Training von KI nutzen zu können, wird heute versucht, Daten aus den jeweiligen Krankenhäusern zu exportieren und in zentralen Daten-Repositorien („data lakes“) zu sammeln und zu kombinieren. Die Hürden und der Aufwand sind aber enorm und kaum skalierbar. Eine mögliche Lösung zur Einhaltung aller Bestimmungen, zum verbesserten Schutz der Daten und zum schnelleren Zugriff auf die Daten wäre daher, wenn für das Trainieren von KI-Algorithmen kein Export der Daten in zentrale Forschungsdatenbanken notwendig wäre, sondern die Algorithmen direkt vor Ort trainiert werden könnten. „Federated Learning“ nennt sich dieser innovative Ansatz. Bei dieser Methode werden Algorithmen in jedem Krankenhaus anhand der lokal vorliegenden Patientendaten trainiert.

 

Anschließend werden die trainierten Algorithmen aus den einzelnen Krankenhäusern zu einem zentralen Server geschickt und dort zu einem globalen Modell zusammengefügt. In den letzten Jahren wurden Technologien, die dieses Ziel verfolgen, entscheidend weiterentwickelt. Es konnte auch bereits gezeigt werden, dass ein so trainierter Algorithmus vergleichbare Ergebnisse erzielt wie ein Modell, das an einem zentralen Daten-Repositorium trainiert worden ist. [5]


Die Digitalisierung und Standardisierung von Daten im Krankenhaus stecken in den Kinderschuhen und medizinische Daten gelten nach deutschem und europäischem Recht – sinnvollerweise – als besonders sensibel. Bei ihrer Verarbeitung müssen daher eine Vielzahl an sich ergänzenden, aber leider auch widersprechenden, genauer gesagt „überschreibenden“ Regularien zum Datenschutz beachtet werden. Zudem bestehen medizinische Datensätze aus einer Vielzahl von Einzeldatensätzen, die an verschiedenen Stellen im Krankenhaus (Radiologie, Pathologie, Labormedizin, überweisende Fachdiszi-
plinen etc.) erhoben und in verschiedenen Klinikinformationssystemen gespeichert werden. Damit ist die Erstellung von Trainingsdatensätzen nicht nur besonders zeitintensiv, sondern die Datenquellen sind oft auch unvollständig. Es sollten daher flächendeckend Methoden zur strukturierten Datenerfassung an den entsprechenden datenerhebenden Stellen eingeführt werden. So können z. B. in den diagnostischen Disziplinen über strukturierte Eingabemasken direkt synoptische und vollständige Berichte erstellt werden, die maschinenlesbar sind und somit für die Entwicklung und das Training von KI-Algorithmen unmittelbar zur Verfügung stehen.


Angesichts der hohen und stetig steigenden Arbeitsbelastung im klinischen und Praxis-Alltag der Ärzte, bedürfen neue Technologien einer nahtlosen Integration in bestehende Arbeitsabläufe. Für KI-Algorithmen bedeutet das, dass sie mit möglichst wenig Aufwand innerhalb bestehender IT-Infrastrukturen aufgerufen werden können und auch innerhalb dieser ihre Ergebnisse liefern.

 

Herstellerunabhängige Integrationslösungen für den diagnostischen Workflow
Zur Integration von KI-Lösungen in diagnostische Workflows eignen sich daher am besten „Adaptersysteme“, die den KI-Herstellern offene Schnittstellen anbieten und ihrerseits Schnittstellen zu allen gängigen Krankenhaus-IT-Systemen besitzen. An ein solches System könnten Algorithmen verschiedenster Hersteller und Entwickler „andocken“ und so nahtlos in Kliniksysteme integriert werden. Umgekehrt könnten Ärzte über ein solches System schnell Zugriff auf eine Vielzahl von Algorithmen erhalten. Ein solches System könnte lokal im Krankenhaus installiert sein; es könnte aber auch in Form einer Plattform-Lösung angeboten werden, die aus den jeweiligen Krankenhaus-
IT-Systemen heraus angesteuert wird.


Orchestrierung diagnostischer Algorithmen
Welche Algorithmen zur Bewertung eines Falles benötigt werden, hängt fundamental von der medizinischen Fragestellung ab. So kann es zum Beispiel sein, dass sowohl bei einem
Motorradunfall als auch bei einem Verdacht auf Bauchspeicheldrüsenkrebs ein Ganzkörper-CT aufgenommen wird. Im ersten Fall würden jedoch Algorithmen benötigt, die vor allem darauf abzielen, Frakturen, innere Blutungen oder Verletzungen innerer Organe zu bewerten. Im Falle des Verdachts auf Bauchspeicheldrüsenkrebs würden dagegen Algorithmen benötigt, die Metastasen in den verschiedenen Körperregionen erkennen, den Lymphknotenstatus bewerten oder den Primärtumor charakterisieren. Daher sollten Algorithmen in Entscheidungsunterstützungssysteme eingebettet sein, die die jeweilige klinische Fragestellung bewerten und gezielt die benötigten Algorithmen orchestrieren können. Ärzte sollten mit diesen Systemen während des Befundungsprozesses interagieren können, um so interaktiv eine optimale Diagnose zu garantieren.


Die deutsche Förderlandschaft ist ein wichtiger Treiber der deutschen Innovationskraft in künstlicher Intelligenz. Um diesen wichtigen technischen Innovationen nun in den klinischen Alltag zu verhelfen, bedarf es mehr Fokus auf die Translation und die technische beziehungsweise regulatorische Infrastruktur.

 

Referenzen
[1] Walter M. Demand for radiology still high, average alaries up 4% Radiology Business. 2019
[2] Slomka PJ, Dey D, Sitek A, Motwani M, Berman DS, Germano G. Cardiac imaging: working towards fully-
automated machine analysis & interpretation. Expert Rev Med Devices. 2017;14(3):197-212
[3] Hightech-Forum. GUTE IDEEN ZUR WIRKUNG BRINGEN – UMSETZUNGSIMPULSE DES HIGHTECH-FORUMS ZUR HIGHTECH-STRATEGIE. 2017
[4] https://www.elsevier.com/research-intelligence/resource-library/ai-report ;
https://www.scimagojr.com/countryrank.php?category=1702&year=2018
[5] Brendan McMahan, Eider Moore, Daniel Ramage, Seth Hampson, and Blaise Agüera y Arcas. Communication-efficient learning of deep networks from decentralized data. Proceedings of the 20th International Conference on Artificial Intelligence and Statistics, AISTATS, 2017.