Künstliche Intelligenz ist ein Buzzword, das gerne mal so in den Raum geworfen wird. Bei der ASCO-Jahrestagung brachte Prof. James Zou von den Computerwissenschaften der Universität Stanford erst einmal Ordnung ins Begriffschaos. Zou ist weltweit einer der profiliertesten KI-Experten, die sich speziell mit medizinischen und hier insbesondere onkologischen Einsatzszenarien für KI beschäftigen.
Für jede Fragestellung die richtige KI
Der US-Amerikaner unterscheidet prädiktive und generative KI. Erstere macht auf Basis von entweder strukturierten oder auch unstrukturierten Daten eng umschriebene Vorhersagen, etwa zu Diagnosen, zu Komplikationsrisiken oder zum Therapieansprechen. Solche prädiktiven Anwendungen können, je nach Datengrundlage, klassische Entscheidungsbäume nutzen oder auch neuronale Netzwerke. Generative KI, die typischerweise auf sehr großen, neuronalen Netzwerken basiert, ist dagegen viel flexibler. Je nach Training kann sie Texte produzieren, Moleküldesigns entwerfen oder sich mehr oder weniger gezielt mit dem Gegenüber unterhalten.
In der Krebsmedizin könnten sowohl prädiktive als auch generative KI-Werkzeuge extrem nützlich sein, meinte Zou. Die Domäne der prädiktiven Anwendungen sind dabei zum einen die Diagnose-Tools, zum anderen Anwendungen, die das Therapieansprechen oder -nichtansprechen vorhersagen. Generative KI könne dagegen unter anderem beim Design klinischer Studien helfen, insbesondere bei der Beschreibung geeigneter Studienteilnehmer. Sie könne außerdem als Co-Pilot für die Versorgung von Patient:innen dienen oder medizinische Informationen aller Art patientengerecht aufbereiten.
Hilfe bei der Diagnose, Ansatzpunkte für gezieltere Therapien
In den USA werden prädiktive KI-Anwendungen in der Krebsmedizin zunehmend genutzt; die Zulassungsbehörde FDA hat eine ganze Reihe derartiger Tools zugelassen. Die Anwendung „Transpara“ etwa wird eingesetzt, um auf Mammographien brustkrebsverdächtige Läsionen zu markieren. „Paige Prostate“ analysiert Gewebeschnitte von Prostatabiopsien. „Optellum“ entdeckt krebsverdächtige Lungenrundherde in den CT-Untersuchungen des Lungenkrebs-Screenings. Und „GI Genius“ hilft bei der Auswertung von gastrointestinalen Endoskopievideos. Diese und ähnliche Anwendungen sind teilweise auch in Europa erhältlich, aber noch nicht weit verbreitet. Das liegt neben Erstattungsproblemen nicht zuletzt daran, dass die FDA beim Zulassungsverfahren für KI-Tools den Europäern einige Jahre voraus ist. In Europa kommt erst jetzt durch den AI Act der EU etwas mehr Bewegung in die Sache.
Was das Thema Vorhersage von Therapieansprechen angeht, haben jüngst vor allem genomische KI-Studien für Aufmerksamkeit gesorgt. Auf Basis der großen Krebsdatenbanken Foundation Medicine und Flatiron wurden beispielsweise 458 Mutationsprofile identifiziert, die mit unterschiedlichsten Anti-Tumor-Therapien interagieren (Liu R et al. Nature Medicine 2022; 28:1656-61). Weniger als 60 davon waren vorher bekannt: „Diese Ergebnisse können für die Entwicklung von Companion-Diagnostik sehr nützlich sein“, so Zou. Klar ist aber auch, dass das dann jeweils in klinischen Studien untersucht werden muss.
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KI-basiertes Krebs-Screening
Screening-Programme gehörten zu den vielversprechendsten Anwendungs-gebieten von bildbasierten KI-Algorithmen in der Krebsversorgung. Bei der Vision-Zero-Tagung in Berlin skizzierte Dr. Martin Weihrauch von der Smart in Media AG die Potenziale am Beispiel von Hautkrebs, Brustkrebs und Lungenkrebs. So sei für den Hautkrebs mittlerweile gezeigt, dass umfassend trainierte neuronale Netzwerke eine Bewertung von Hautläsionen auf dem Niveau von Dermatolog:innen vornehmen könnten, so Weihrauch. Dies gelte es jetzt in Screening-Programme zu integrieren, mit denen möglichst breite Bevölkerungsschichten erreicht werden können.
Im Brustkrebs-Screening sei der bisherige Standard, dass zwei Radiolog:innen sich die Mammographien unabhängig voneinander ansehen und dass bei Diskrepanz noch ein:e dritte:r hinzugezogen wird. Das ist in Zeiten der KI möglicherweise unnötig aufwendig. Zumindest gebe es mittlerweile Studien, so Weihrauch, in denen ein Team aus Radiologin oder Radiologe und KI-Algorithmus bei gleicher Falsch-Positiv-Rate mehr Krebsfälle identifizieren konnte als ein rein menschliches Team. Mit anderen Worten: Die Zuverlässigkeit des Screenings steigt, bei gleichzeitig geringerem Personalbedarf.
Weihrauchs drittes Beispiel war das Lungenkrebs-Screening. Hier verwies er auf die kürzlich publizierte Sybil-Studie, die ein validiertes Deep-Learning-Modell zur Prädiktion von Lungenkrebs anhand einer Low-Dose-Thorax-CT-Aufnahme genutzt hat. Entwickelt wurde das zugrundeliegende Modell auf Basis des US-amerikanischen National Lung Cancer Screening Trial, validiert wurde es an einer Kohorte des Massachusetts General Hospital und einer weiteren Kohorte aus China. Es zeigte sich, dass das Modell mit im zeitlichen Verlauf etwas abnehmender Genauigkeit ein erhöhtes Krebsrisiko für einen Zeitraum von bis zu sechs Jahren detektieren konnte: „Das ist uns Menschen so nicht möglich. Es werden dabei auch Patienten detektiert, bei denen der Radiologe noch nichts sieht“, so Weihrauch.
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Rekrutierung per KI steigert die Frauenquote
Alle bisher erwähnten Anwendungen sind prädiktive KI-Anwendungen. Durch die generative KI – also das, was ChatGPT und ähnliche sogenannte große Sprachmodelle leisten – verbreitert sich das Spektrum denkbarer onkologischer KI-Anwendungen nun deutlich. Zous Arbeitsgruppe nutzt generative KI für eine Software, die sie „Trial Pathfinder“ nennt. Es geht darum, die oft recht engen Einschlusskriterien klinischer Studien mit Hilfe von KI zu verbreitern, sodass mehr Patient:innen aufgenommen bzw. die Studien entsprechend schneller durchgeführt werden können – ohne dass sich an den Effektivitäts- und Sicherheitsergebnissen etwas ändert (Liu R et al. Nature 2021; 592:629-33).
Das funktioniere extrem gut, so Zou. Die Wissenschaftler:innen aus Stanford haben zehn große onkologische Studien der letzten Jahre genommen und können zeigen, dass sie – ohne Veränderung der Ergebnisse – die Einschlusskriterien mit KI-Hilfe so modifizieren können, dass sich die Zahl der für die jeweilige Studie geeigneten Patient:innen im Mittel verdoppelt: „Davon profitieren vor allem Frauen, Minderheiten und alte Patienten“, so Zou.
Co-Piloten für klinische Studien und Versorgung
Noch näher an die Krebspatient:innen heran rücken KI-basierte Co-Piloten, die darauf abzielen, entweder Arzt/Ärztin oder aber Patient:innen in bestimmten Versorgungssituationen zu unterstützen. An Krebsmediziner:innen und Patholog:innen richtet sich beispielsweise der PLIP-Chatbot. PLIP steht für Pathology Language and Image Pre-Training. Er analysiert Gewebeschnitte, beschreibt, was er sieht und durchwühlt außerdem Lehrbücher, elektronische Patientenakten und Online-Quellen wie zum Beispiel Twitter auf der Suche nach ähnlichen Befunden.
Direkt an Patient:innen dagegen richtet sich der auf ChatGPT basierende Sprachroboter MyEleanor, über den Dr. Alyson Moadel vom Montefiore Einstein Comprehensive Cancer Center in New York berichtete. MyEleanor wurde darauf trainiert, sich mit Menschen zu unterhalten, die ihre Vorsorgekoloskopie nicht wahrgenommen hatten bzw. einen entsprechenden Termin ausfallen ließen, und zwar im New Yorker Stadtteil Bronx, ein sozialer Brennpunkt mit problematischer medizinischer Versorgung und hohen Ausfallquoten bei der Koloskopie.
MyEleanor rief rund zweitausend Menschen an und fragte als Erstes nach der bevorzugten Sprache, denn für knapp 60 Prozent der Menschen in der Bronx ist Englisch nicht die Muttersprache. Danach erläuterte der Chatbot den Angerufenen, dass es um die Vorsorgekoloskopie gehe. Immerhin 57 Prozent ließen sich auf das Gespräch ein, das sich zunächst darum drehte, warum der ober die Angerufene den Termin hatte ausfallen lassen. Letztlich ließen sich 780 von insgesamt 2 400 Angerufenen überzeugen, sich zu einem „echten“ Menschen durchstellen zu lassen und einen neuen Termin zu vereinbaren – aus Sicht der Präventionsexpert:innen vom Montefiore Krebszentrum ein enormer Erfolg.
Viele sind skeptisch
Die Montefiore-Erfahrungen zeigen, dass die These, wonach Patient:innen bzw. Bürger:innen hinsichtlich KI-Anwendungen in der medizinischen Versorgung generell skeptisch seien, so pauschal nicht zu halten ist. Eine von Jane Perlmutter von der Krebsselbsthilfe Gemini vorgestellte Umfrage deutet darauf hin, dass das Verhältnis von Patient:innen zu medizinischer KI mindestens ambivalent ist. In der repräsentativen Befragung sagte rund ein Drittel, dass KI die medizinische Versorgung verbessern werde. Ungefähr genauso viele waren der Auffassung, dass sie dadurch schlechter werde.
Dabei hängt die Zustimmung zur KI offenbar vom Einsatzszenario ab. So wünschen sich immerhin zwei Drittel, dass KI im Rahmen des Hautkrebs-Screenings eingesetzt wird, und 55 Prozent glauben, dass die Hautkrebsdiagnose durch KI verbessert wird. Eine KI, die Empfehlungen zur Schmerzmedikation gibt, wünscht sich dagegen nicht einmal jede:r Dritte. Und 57 Prozent befürchten, dass der Einsatz von KI das Verhältnis zu Arzt oder Ärztin verschlechtert.
Fazit
KI-Anwendungen können in der Krebsversorgung an vielen Stellen hilfreich sein. Neben „klassischen“ Einsatzgebieten wie der bildgebenden Diagnostik und der Risikoprädiktion können unter anderem klinische Studien profitieren. Außerdem sehen Expert:innen viel Potenzial für Anwendungen, die Patient:innen bei komplizierten und kommunikationsaufwendigen Versorgungsszenarien unter-
stützen – nicht zuletzt in der Prävention, wo KI den Personalaufwand für das Ansprechen der Patient:innen reduzieren kann.