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Künstliche Intelligenz: Neue Welten für die Teleradiologie

Noch steckt Deutschlands Gesundheitswesen im quälend langsamen Wandel zur Digitalisierung und grübelt über die Risiken von Big Data. Da kommen mit der Künstlichen Intelligenz (KI) spannende Innovationen um die Ecke. Vor allem in der Radiologie werden die neuen Möglichkeiten begrüßt. Gerade die Teleradiologie kann davon stark profitieren.

Dr. Torsten Möller mit einer Befunderin bei der Kontrolle radiologischer Bilder; Foto: © Detlef Hans Franke/FuP Kommunikation

Jahrzehntelang kämpfte Dr. med. Torsten Möller, Geschäftsführer von reif und möller – Netzwerk für Teleradiologie aus Dillingen, in der radiologischen Gemeinschaft um die Anerkennung der Teleradiologie. Seit der digitale Wandel auch im Gesundheitswesen nicht mehr aufzuhalten ist und der Personalmangel in den Röntgenabteilungen und Praxen immer spürbarer wird, hören ihm auch einst skeptische Berufskolleg:innen häufiger zu.


Der Grund ist klar: Das Datenvolumen in der Radiologie stieg in den vergangenen Jahren drastisch. Allein bei CT-Untersuchungen lag der Anstieg im ambulanten kassenärztlichen Bereich zwischen 2007 und 2018 bei 25 Prozent, im stationären Bereich sogar bei über 80 Prozent.1 „Aber nicht nur die Anzahl an Befunden ist gestiegen, sondern auch die Anforderungen, die jeder einzelne Befund mit sich bringt“, weiß Möller. Die Zahl der zu prüfenden Schichten ist gestiegen. Das erfordert mehr Zeit und Know-how bei der Befundung. Außerdem werden immer mehr Zahlen, Daten und Fakten standardmäßig abgefragt.


Leider wird der Stellenschlüssel der wachsenden Nachfrage und den kontinuierlich steigenden Anforderungen in den radiologischen Abteilungen und Praxen selten adäquat angepasst. Die Kosten sind einer der Gründe dafür, der Fachkräftemangel ein anderer. Einer Studie von PricewaterhouseCoopers aus dem Jahr 2019 zufolge, werden 2030 in Deutschland rund 4 000 Krankenhaus-Radiolog:innen fehlen. Im ambulanten Bereich rechnet man mit einer Lücke von circa 1 600 Fachärzt:innen. „Wahrscheinlich werden die Zahlen am Ende sogar noch höher sein, da sich zusätzlich der Arbeitsaufwand des Radiologen ständig erweitert, zum Beispiel allein durch die zahlreichen Einsätze im Rahmen von Bilderschauen und Tumorboards“, so Möller.


Bedeutung der Teleradiologie wächst
Vor diesem Hintergrund wächst die Bedeutung der Teleradiologie als Unterstützung vor allem nachts und an Wochenenden sowie Feiertagen. Doch Arbeitsbelastung und Fachkräftemangel gehen auch an teleradiologischen Netzen nicht spurlos vorbei. Stress, Unzufriedenheit und Fehler sind da manchmal nicht zu vermeiden. Um hier Abhilfe zu schaffen und sowohl die Arbeitsbedingungen als auch die Qualität der Diagnostik für Patient:innen zu verbessern, hat sich Möller Künstliche Intelligenz zu Hilfe geholt.


Der Radiologe war sich schon vor fünf Jahren darüber klar, dass KI das Gesundheitswesen revolutionieren kann. Bereits 2018 lautete sein Credo im E-HEALTH-COM TrendGuide Gesundheits-IT: „Künstliche Intelligenz und intelligente, automatisierte Befundung bis hin zum ‚Deep Learning‘ der Systeme stehen kurz vor der Einführung in den radiologischen Routinebetrieb. Es gibt vielversprechende Entwicklungen auf diesem Sektor. Über ‚Smart Radiology‘ könnten wir Befunde ohne größere Mehrkosten mehrfach prüfen und dadurch deren Qualität weiter verbessern. Außerdem kann bei zu erwartendem Anwachsen des Arbeitsaufkommens die automatisierte Befundung eine Überforderung der Radiologen verhindern.“


Möller rechnete damals in ein bis zwei Jahren mit praktischen Anwendungen. Es dauerte etwas länger, bis die ersten marktreifen Produkte zum Einsatz kamen. Schnell boten immer mehr Start-ups und etablierte Unternehmen KI-Lösungen für die bildgebende Diagnostik an. Als sich 2021 erste zufriedenstellende Ergebnisse abzeichneten, war für Möller klar, dass auch die Krankenhäuser und die Befunder:innen seines Netzwerks von KI profitieren sollten. Um den richtigen Partner für seine Pläne zu finden, recherchierte er zunächst die auf dem Markt angebotenen KI-Lösungen, von denen es mittlerweile eine ganze Menge gibt, und prüfte, welche der Produkte leistungsfähig, anwendungsfreundlich und für seine Zwecke geeignet sind. Nach ersten Produkt­prüfungen entschied sich Möller schließlich dafür, mit Aidoc in eine längere Testphase zu gehen.


Das israelische Unternehmen verfügt über zehn CE-gekennzeichnete KI-Lösungen zur Unterstützung in der Detektion, Priorisierung und Kommunikation verschiedener Anomalien. Das Modul-Portfolio aus der Eigenentwicklung wird durch eine Plattformlösung mit Drittpartner-Modulen sinnvoll ergänzt und durch ein AI Operating System orchestriert.


„Außerdem verfügt das Unternehmen über einen großen Daten- und Erfahrungsschatz. Sein System wird bereits in über 900 medizinischen Zentren weltweit klinisch eingesetzt, unter anderem in den Universitätskliniken Antwerpen, Basel und Brüssel, im Unfallkrankenhaus Berlin, im Kopenhagener Rigshospital sowie in den Landeskliniken Salzburg“, begründet Möller seine Entscheidung.


Nahtlose Integration, höhere Qualität und Zeitgewinn
Die Fachleute von reif und möller prüften während der Testphase die Software auf Herz und Nieren. Dabei ging es nicht nur um die Leistungsfähigkeit der KI in der Befundung, sondern auch um die nahtlose Integration in die Betriebsabläufe zwischen der KI-Software, den dezentral stationierten und häufig im Homeoffice tätigen 70 Befunder:innen sowie den über 160 Krankenhäusern in Deutschland, Österreich und Liechtenstein, für die das Netzwerk teleradiologisch tätig ist. Die Nutzerfreundlichkeit und die Servicequalität des KI-Anbieters spielten ebenfalls eine Rolle bei der Auswahl. „Für uns ist wichtig, dass der Workflow aus einem Guss ist. Die KI-Ergebnisse müssen dort auftauchen, wo die Befunder:innen arbeiten. Es darf keine zusätzlichen Fenster, Eingaben oder Sonstiges geben. Im Idealfall Plug-and-play.“


Diese Anforderungen Möllers wurden erfüllt: „Das System ließ sich unkompliziert in die bestehenden Systeme integrieren. Es läuft äußerst zuverlässig und lässt sich so leicht bedienen, dass es in nur einer Stunde den Befunder:innen erklärt war.“ Die Algorithmen unterstützen bei der Dia-gnostik und Entscheidungsfindung, weil sie krankhafte Veränderungen schneller und präziser finden und klassifizieren können als das menschliche Auge. So liegen die KI-Ergebnisse je nach Anwendungsgebiet bereits nach zwei bis sechs Minuten vor. „Das ist vor allem dann wichtig, wenn es zum Beispiel beim Verdacht auf lebensbedrohliche Verletzungen auf Sekunden ankommt. Dies gilt bei unserer Arbeit unter anderem für den Einsatz bei Kopfverletzungen sowie der Suche nach Embolien in Lunge oder im Bauchraum“, erklärt Möller.


Dazu muss man wissen, dass bei Teleradiolog:innen, die häufig in der Notfallmedizin tätig sind, viele Bilder in oftmals sehr kurzer Zeit auflaufen. Dabei sind nicht alle gleich zeitkritisch. Bei einer Arthrose zum Beispiel kommt es in der Behandlung nicht auf eine Stunde oder einen Tag an. Bei Notfällen wie Schädeltraumata, Schlaganfällen oder Hirnblutungen dagegen schon. Hier entscheiden Minuten. Je schneller die Patient:innen behandelt werden, desto eher lassen sich schwerwiegende gesundheitliche Folgen verhindern. Vor allem bei solchen akuten Notfällen erweist sich die KI als sehr hilfreich, denn sie analysiert im Hintergrund alle eingehenden Bilder beispielsweise auf den Verdacht von Blut im Gehirn. Wird die KI fündig, fängt es auf dem Bildschirm augenblicklich an, orange zu blinken. Für Radiolog:innen ist das ein Hinweis, sich dieses Bild bevorzugt anzuschauen. „KI ist in diesem Fall wie eine schnelle Zweitbefundung, eine Priorisierungshilfe, die dabei unterstützt, die Spreu vom Weizen zu trennen. Damit rücken schwere Fälle automatisch nach vorne und kritische Patient:innen können schneller behandelt werden“, erläutert Möller.


Der KI-Einsatz wird wissenschaftlich begleitet
Bei der Beurteilung der Qualität des Systems verließ sich reif und möller nicht nur auf die positive Bewertung durch das Befunder:innen-Team. Parallel zum praktischen Einsatz wurden bereits existierende Befunde der Radiolog:innen durch die KI-Algorithmen geprüft. Im Rahmen einer retrospektiven Studie selektierte das Team dafür 2 700 CT-Scans. Neben den 189 von den Radiolog:innen gesehenen, detektierte die KI zehn zusätzliche Hirnblutungen sowie acht weitere unklare Fälle, die zwar abschließend nicht einwandfrei als Hirnblutung klassifiziert werden konnten, jedoch Folgeuntersuchungen nahelegten. „Diese ersten Ergebnisse waren damit besser als erwartet“, so Möller.


Nach Abschluss der sechsmonatigen Testphase setzt reif und möller seit Ende 2022 bei der Befundung als erstes deutsches Teleradiologienetz auf den routinemäßigen Einsatz von KI. Auch die Begleitforschung wird fortgesetzt. Weitere vergleichende Untersuchungen sollen die Validität der ersten Befundungsergebnisse erhärten. Der KI-Einsatz hat einen weiteren positiven Effekt. Die Befunder:innen brauchen rund fünf Prozent weniger Zeit. Damit entlasten die intelligenten Programme die Radiolog:innen von Routineaufgaben und verschaffen ihnen mehr Zeit für die Beratung der Krankenhausärzt:innen oder für die Forschung.


Wie geht es weiter
Das Thema KI in der medizinischen Versorgung wird an dieser Stelle nicht stehenbleiben. Allein in der bildgebenden Diagnostik zeichnen sich neben dem exakteren Erkennen pathologischer Veränderungen weitere erfolgversprechende Einsatzgebiete ab. So kann die KI bereits jetzt Vorhersagen zum Lungenkrebs-2 oder Prostatakrebsrisiko3 machen oder Hinweise auf die Erfolgschancen von Chemo-therapien bei Brustkrebs vor einer geplanten Operation geben4, um nur drei Beispiele zu nennen. Und bei der Bildgebung wird es nicht bleiben.  Möller ist überzeugt, dass die Zukunft der Vernetzung diagnostischer Elemente wie Radiologie, Labormedizin und Anamnese gehört. Ärzt:innen könnten bereits jetzt mithilfe von KI bildgebende Diagnostik, Anamnese und Labormedizin zu einem wirkungsvollen Schwert gegen seltene Erkrankungen schmieden und ihre Therapien individualisieren. Allerdings müssen sich die Krankenhäuser hierzu erst noch weiter digitalisieren.


Zwei andere Aspekte, die in der Anfangsphase von Teleradiologie und Künstlicher Intelligenz in der gesundheitspolitischen Diskussion kritisch gesehen wurden, sind für Möller geklärt. Dies gilt zum einen für die Möglichkeit, eine Vielzahl unterschiedlicher Geräte- und Softwaretypen über große Entfernungen hinweg miteinander zu verknüpfen: „Dies hat sich in der Praxis nicht als große Hürde herausgestellt. Alle derzeit auf dem Sektor der Künstlichen Intelligenz in der Radiologie Forschenden machen dies zwangsläufig letzten Endes ‚modalitätsunabhängig‘, um ein Produkt anzubieten, das am Markt Bestand hat.“ 5


Auch andere Bedenken haben sich bisher als unbegründet herausgestellt. „Die KI wird zumindest auf absehbare Zeit die Radiolog:innen nicht vollständig ersetzen können“, ist sich Möller sicher. „Vielmehr ergänzt sie die Arbeit der Menschen, kompensiert Schwachstellen und verbessert so die Qualität der Befundung. Es ist die Synergie von Mensch und KI, die das beste Ergebnis erzielt.“

 

Quellen

  1. https://www.bfs.de/DE/themen/ion/anwendung-medizin/diagnostik/roentgen/haeufigkeit-exposition.html
  2. https://www.lungenaerzte-im-netz.de/news-archiv/meldung/article/ki-kann-bereits-bessere-vorhersage-des-lungenkrebsrisikos-ermoeglichen/
  3. https://www.prostata-hilfe-deutschland.de/prostata-news/ki-prostatakrebs
  4. https://healthcare-in-europe.com/de/news/ki-soll-unnoetige-brustkrebs-op-nach-chemotherapie-verhindern.html
  5. Uwe Engelmann, Torsten B. Möller, Florian Schwind, Teleradiologie. Radiologie – Management – IT, Springer Nature 2022

 

Autor

Detlef Hans Franke
FuP Kommunikation
Kontakt: info(at)fup-kommunikation.de