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Künstliche Intelligenz: Wie klappt die Translation?

Die Einführung trainierter Maschinenlernalgorithmen in die klinische Versorgung bleibt eine Herausforderung. An mehreren Universitäten wird die Forschung zu Künstlicher Intelligenz (KI) in der Medizin derzeit stark ausgebaut. Mittlerweile sitzen nicht mehr nur in der Radiologie, sondern auch in anderen Bereichen IT-ler:innen und Kliniker:innen gemeinsam an einem Tisch.

Quelle: © Greenbutterfly – stock.adobe.com

Wer sehen will, was KI-Forschung leisten kann, die eng an die klinische Versorgung angekoppelt ist, der blickte bisher meist in Richtung USA. Mit der Stanford University und der Mayo Clinic in Rochester gibt es dort zwei Adressen, die seit Jahren Maschinenlernalgorithmen entwickeln, die nicht vom Bildschirmarbeitsplatz aus, sondern von der medizinischen Versorgung her gedacht sind und die auf unmittelbare Praxisrelevanz zielen. Viele jener Algorithmen beispielsweise, die heute im Bereich Diagnostik von ­Vorhofflimmern in Smartphones und Smartwatches eingesetzt werden, gehen auf Arbeiten aus Stanford zurück.


Auch an der Mayo Clinic arbeiten die dortigen KI-Teams stark im Bereich Kardiologie. Der Fokus liegt dort darauf, das Standard-EKG zu „pimpen“, dahingehend, dass einiges mehr an Informationen herausgezogen wird, als Ärzt:innen mit einer EKG-Grundausbildung üblicherweise daraus ablesen können. So wurden Algorithmen entwickelt, die das Risiko einer Abnahme der Herzfunktion in den nächsten Monaten oder Jahren abschätzen helfen. Das könnte ein wertvoller Hinweis für eine bessere, frühere Herzinsuffizienzversorgung sein.


Praxisnahe KI holt mehr aus der EKG-Diagnostik heraus
Ein Fokus der letzten Monate war außerdem das in vielen Fällen erblich bedingte Long-QT-Syndrom, das das Risiko lebensbedrohlicher Herzrhythmusstörungen stark erhöht und das immer noch häufig übersehen wird. Mayo-Kardiolog:innen um Michael Ackerman und Informatiker:innen um Zachi Attia haben zum Beispiel einen Algorithmus entwickelt, der aus einem mobilen, selbst aufgezeichneten EKG die QTc-Zeit so zuverlässig ermittelt, dass sie klinisch genutzt werden könnte (Giudicessi JR et al. Circulation 2021; doi: 10.1161/CIRCULATIONAHA.120.050231). Trainiert wurde anhand von 12-Kanal-EKGs. Entscheidend war dann aber die Validierung bei einem mobilen 6-Kanal-EKG mit Smartphone-kompatibler Elektrodenplatte. Auf der Oberseite wird je ein Finger jeder Hand aufgelegt, die Rückseite liegt mit der dritten Elektrode auf dem Knie. So können I, II, III, aVL, aVR und aVF abgeleitet werden, wenn zwei Minuten lang gemessen wird – in sehr guter Qualität.


Im Endeffekt zeigte sich, dass der Algorithmus mit dem mobilen EKG sehr gut klarkam. Er fischte nicht alle, aber die große Mehrheit der Patient:innen mit Long-QT-Syndrom heraus. Gemessen am Goldstandard „Bewertung der QTc-Zeit anhand eines 12-Kanal-EKGs durch einen Experten“ erreichte der Algorithmus auf Basis des mobilen 6-Kanal-EKGs eine Sensitivität von 80 Prozent und eine Spezifität von 94 Prozent. Diese Ergebnisse machen es denkbar, das mobile, selbst abgeleitete EKG nicht nur als Screening-Tool für Long-QT-Syndrom, sondern auch als Kontrolle bei Ansetzen potenziell problematischer Medikamente einzusetzen.


In einer weiteren Arbeit zum Long-QT-Syndrom hat dieselbe Gruppe einen Algorithmus dahingehend trainiert, aus einem Standard-12-Kanal-EKG ein Long-QT-Syndrom zu erkennen (Bos JM et al; JAMA Cardiology 2021; doi: 10.1001/jamacardio.2020.7422). Das klingt erst mal banal, denn die QTc-Zeit muss ja nur gemessen werden. Allerdings hat nicht jede:r Patient:in mit genetischem Long-QT-Syndrom eine verlängerte QTc-Zeit im Ruhe-EKG. Bei manchen demaskiert sich das erst unter Belastung. Das Mayo-Team konnte zeigen, dass bei einem Kollektiv von Patient:innen mit Verdacht auf Long-QT-Syndrom der Algorithmus ein solches mit einer diagnostischen Genauigkeit von 79 Prozent auch dann noch erkennt, wenn die QTc-Zeit in Ruhe normal ist. Auch das könnte in der klinischen Routineversorgung sehr hilfreich sein, weil die QTc-Zeit-Messung unter Belastung schwierig ist.


Große KI-Teams sollen Algorithmen zügig vorantreiben
Jenseits der Kardiologie sind unter anderem Onkologie und Nephrologie Disziplinen, in denen klinische KI-Algorithmen intensiv beforscht werden – auch in Deutschland. Prof. Dr. Dr. Jens Kleesiek, Mediziner und Informatiker und vormals Leiter der Computational Radiology Research Group am DKFZ in Heidelberg, hat kürzlich am Institut für KI in der Medizin (IKIM) am Universitätsklinikum Essen die Professur Translationale bildgestützte Onkologie im Bereich Medical Machine Learning übernommen.


Ähnlich wie auch das Berlin Institute of Health (BIH) der Charité Berlin will das Essener Institut für KI in der Medizin den Graben zwischen Informatik und klinischer Versorgung überbrücken helfen. Aktuell sind drei Professuren besetzt, vier befinden sich im Besetzungsprozess und es sollen noch weitere ausgeschrieben werden. Bis Jahresende soll das Institut bereits 100 Mitarbeiter:innen haben und dann weiter wachsen. In einer solchen Struktur, hofft Kleesiek, können kliniknahe KI-Entwicklungsprojekte zügig vorangetrieben werden: „Es besteht immer die Gefahr, dass wir in der Informatik anfangen, Probleme zu lösen, die klinisch nicht so relevant sind. Das sind letztlich Kommunikationshürden, die wir durch enge Kooperation und die enge Anbindung an die Universitätsklinik umgehen können.“


Prinzipiell sei es ratsam, sich klinisch-translationalen KI-Fragestellungen im Tandem zu nähern, so Kleesiek. Steinig sei vor allem das letzte Stück: „Einen Algorithmus zu entwickeln, der aus öffentlichen Daten gute Ergebnisse erzielt, ist das eine. Daraus ein Produkt zu machen, das am Point-of-Care einsetzbar und dort nützlich ist, das ist ein weiter Weg. Das schafft keine einzelne Person.“ Neben Mediziner:innen und KI-Expert:innen brauche es dazu oft noch eine dritte Partei, ein Unternehmen mit Erfahrung im medizinischen Umfeld und Know-how in der Produktentwicklung.


Am Ende braucht es multizentrische Studien
Ein Fokus liegt bei den Essenern auf der translationalen, bildgestützten Onkologie, aber das Spektrum geht über die Krebsmedizin hinaus, wie Kleesiek betont: „Auf einer übergeordneten Ebene interessieren wir uns letztlich für Schlüsselprinzipien des medizinischen Maschinenlernens und dafür, wie sich unterschiedliche klinische Probleme durch KI lösen lassen.“ Typische Problemstellungen sind dabei Unterstützungsleistungen für multidisziplinäre Entscheidungsprozesse und die personalisierte Bewertung oder auch Vorhersage von Erkrankungsverläufen oder Therapieansprechen. Im Bildgebungsbereich dreht sich viel um Segmentierung und Quantifizierung, im Bereich der immer noch oft unstrukturiert vorliegenden klinischen Daten um Informationsextraktion durch Natural Language Processing (NLP).


„Auf technischer Ebene versuchen wir, die unüberwachten oder nur schwach überwachten Maschinenlernverfahren zu stärken“, so Kleesiek. Bei diesen Methoden ist weniger zeit- und personalaufwendige Annotierung durch Fachexpert:innen nötig. Vielmehr extrahieren die Algorithmen aus den Daten eigenständig Informationen. Das erfordert oft relativ große Datenmengen. „Hier kommt uns die Smart-Hospital-Infrastruktur der Universitätsmedizin Essen zugute, die die klinischen Daten aus unterschiedlichsten Datenquellen für ein Algorithmentraining verfügbar macht.“ Allerdings seien auch Algorithmen, die auf Basis größerer Datenmengen einzelner Einrichtungen entwickelt werden, nicht vor Bias gefeit, etwa wenn in der Bildgebung nur ein begrenztes Spektrum an Geräteherstellern genutzt wird. „Am Ende ist deswegen die multizen­trische, randomisierte Studie der Goldstandard. Da sollten wir keinen Unterschied zwischen Medikamenten und Algorithmen machen.“


Digitale Tumorsignatur: Therapieeffekte und Tumorverläufe vorhersagen?

In Sachen Maschinenlernen in der Onkologie kümmern sich die Essener beispielsweise in einem aktuellen Projekt um digitale Tumorsignaturen. Sie zielen darauf ab, Krankheitsprogression besser zu quantifizieren. „Bisher wurde in der Krebs-Bildgebung klassisches Radiomics gemacht, bei dem Regionen von Interesse definiert und dann von Menschen definierte Merkmale auf den jeweiligen Regionen berechnet werden. Danach werden klassische Maschinenlernverfahren genutzt, um die Informationen als Biomarker zu quantifizieren und mit Genotyp oder Therapieansprechen zu korrelieren“, so Kleesiek.


Die digitale Tumorsignatur geht einen Schritt weiter und analysiert die Daten selbst: „Wir nutzen dabei mächtige, moderne Maschinenlernverfahren, um lineare oder nichtlineare Kombinationen von Merkmalen zu extrahieren.“ Klinisches Ziel ist beispielsweise, das Ansprechen auf bestimmte Medikamente zu messen oder vorherzusagen, oder auch die Art der Weiterentwicklung des Tumors besser zu beschreiben, etwa sein Wachstum und bestimmte Gewebeveränderungen wie Nekrosen in unterschiedlichen Tumorregionen: „Am Ende wollen wir dann prospektiv überprüfen, wie sich die Informationen, die die Algorithmen liefern, sinnvoll in Therapieentscheidungen integrieren lassen.“


„Wir haben einiges zu bieten“
Die Annäherung von klinischer Versorgung und Forschung zur Künstlichen Intelligenz geht auch an anderen Universitätsstandorten vonstatten. So wird derzeit an der Charité Berlin im BigMedilytics-Projekt versucht, Prädiktionsmodelle und Alarmsysteme zu entwickeln, mit denen sich Komplikationen nach einer Nierentransplantation besser vorhersagen lassen. Das Projekt baut auf der dortigen MACCS-Plattform auf, einer Smartphone-App für die Nachbetreuung von Patient:innen mit Nierentransplantation.


Insgesamt bieten die neuen, translational ausgerichteten, medizinischen KI-Forschungszentren spannende Karrieremöglichkeiten nicht nur für junge Doktorand:innen aus unterschiedlichsten Fächern, sondern auch für Wissenschaftler:innen in späteren Karrierestadien. „Wir stehen bei der Rekrutierung natürlich in Konkurrenz zu Unternehmen, die oft besser bezahlen können“, betont Kleesiek. „Aber wir haben auch einiges zu bieten. Die tiefe Integration der KI-Forschung mit der Krankenhausinfrastruktur, wie sie zum Beispiel bei uns in der Universitätsmedizin Essen durch das Smart Hospital gewährleistet ist, gibt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit, in großen Teams in vielen Bereichen der Medizin tätig zu werden. Das ist schon ein Alleinstellungsmerkmal.“