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Social Distancing für Ärzt:innen

In der Pandemie hat die Videosprechstunde an Popularität gewonnen. Ärzt:innen, die diese neue Form der Kommunikation verwenden, machen ihre ganz eigenen Erfahrungen. Sie lernen Chancen und Grenzen dieses neuen Kommunikationswegs kennen und entwickeln die Ansprache an ihre Patient:innen weiter.

Quelle: © Robert Kneschke – stock.adobe.com

Die Videosprechstunde bereits 2020 als neue Normalität in der Arztpraxis? Damit hatte wohl niemand gerechnet, als vor wenigen Jahren das Fernbehandlungsverbot fiel und die Ärzt:innen  Videosprechstunden anbieten durften. Viele Ärzt:innen sahen zunächst wenig Veranlassung, sich mit der neuen Technik und den damit möglichen Angeboten zu beschäftigen. Das änderte sich mit dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020, als die Arztpraxen Hygienekonzepte umsetzten und Patient:innen aus Angst vor Ansteckung den anstehenden Arztbesuch auf die lange Bank schoben. Die bis dato eher ungeliebte Videosprechstunde entwickelte sich plötzlich zum Liebling vieler Ärzt:innen – erst recht, nachdem die bestehende Limitierung der Fallzahl vorübergehend ausgesetzt wurde. Die Sprechstunde per Video ist inzwischen in vielen Praxen zu einem festen Bestandteil des ärztlichen Angebots geworden. Nach einem Jahr Pandemie lohnt eine Zwischenbilanz: Was ist dran am Boom der Videosprechstunde, und welche Erfahrungen haben die Ärzt:innen damit gemacht?


Untersuchungen bestätigen den Boom
Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland hat die Nutzung der Videosprechstunde im ersten Halbjahr 2020 ausgewertet. (Für das zweite Halbjahr lagen bei Redaktionsschluss noch keine Zahlen vor.) Danach stieg die Zahl der abgerechneten Videosprechstunden von 593 im gesamten Jahr 2019 auf 1 239 734 allein im ersten Halbjahr 2020. Auch die ausschließliche telefonische Beratung nahm den Zahlen des Zen­tralinstituts zufolge im ersten Halbjahr 2020 deutlich zu, aber bei Weitem nicht so stark wie die Videosprechstunde. Einer Mitteilung der KBV zufolge haben im zweiten Quartal 2020 insgesamt 31 397 Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen Videosprechstunden durchgeführt – im vierten Quartal 2019 lag diese Zahl noch bei 168.


Einen detaillierteren Einblick liefert die Studie „Ärzte im Zukunftsmarkt Gesundheit 2020 – Ärztliche Arbeit und Nutzung von Videosprechstunden während der Covid-19-Pandemie“ der Stiftung Gesundheit und des health innovation hub. Danach haben im Mai 2020 52,3 Prozent der befragten niedergelassenen Ärzt:innen Videosprechstunden angeboten – Ende 2017 waren es noch 1,7 Prozent. Am stärksten verwenden die psychotherapeutisch Tätigen die Videosprechstunde. Hier gaben rund 86 Prozent an, diese bereits zu nutzen oder kurzfristig einrichten zu wollen. Bei den Allgemeinmediziner:innen und den nichtoperativen Fachärzt:innen setzen rund 50 Prozent die Videosprechstunde ein, bei den operativen Fachärzt:innen liegt die Quote bei etwa einem Drittel.


Ärzt:innen dürfen eine Videosprechstunde nicht mit einer beliebigen Software abhalten. Sie benötigen einen von der KBV zertifizierten Anbieter, der eine Ende-zu-Ende verschlüsselte Kommunikation zwischen Ärzt:innen und Patient:innnen ermöglicht. Weiterhin benötigen sie einen PC mit Mikrofon und Webcam. Alternativ können sie auch ein mobiles Endgerät verwenden. Was bedeutet das finanziell? Esther Bickmann, Psychiaterin und Psychotherapeutin mit einer Praxis in der Nähe von München, hat die Preise der verschiedenen Anbieter verglichen und kommt zum Schluss, dass sich die monatlichen Gebühren Ende 2020 bei rund 50 Euro eingependelt haben. Gleich zu Beginn der Pandemie hatte sie sich Mikrofon und Kamera im Internet bestellt. Da sie mit der Qualität der Geräte unzufrieden war, folgte der Gang zum Händler um die Ecke. Ausgestattet mit hochwertigerem Equipment konnte sie seit dem 1. April 2020 mehrere hundert Videosprechstunden ­abhalten.


Die Psychiaterin und Psychotherapeutin hatte schon früher mit dem Gedanken gespielt, die Videosprechstunde einzuführen. In der Pandemie war schnell klar, dass eine Präsenzsprechstunde mit „maskierten“ Patient:innen problematisch werden könnte. „Als Psychiaterin und Therapeutin muss ich die Gesichter, die Mimik und das Lächeln meiner Patient:innen sehen, damit ich ihren seelischen Zustand einschätzen kann“, erklärt sie. Viele ihrer Patient:innen hatten zu Beginn Angst vor der Technik, sogar die jüngeren. Nach mehreren gemeinsamen Probeläufen gelang es dann jedoch immer besser. Kamen die Patient:innen mit der Technik nicht zurecht, übernahmen oft deren Kinder das Einloggen beim Videosprechstunden-Anbieter. Ihr ältester Patient, mit dem sie Videosprechstunden durchführt, ist über 80 Jahre alt. Für ihre Patient:innen erstellte sie ein vier Seiten langes Aufklärungsdokument. Bevor es erstmals losgeht, müssen ihre Patient:innen eine Datenschutzerklärung und eventuell anwesende Vorsorgebevollmächtigte eine Schweigepflichtsentbindung unterschreiben. Die Videosprechstunde hält sie an ihrem Praxis-PC im Sprechstundenzimmer ab. Die Patient:innen verwenden meist Laptops oder mobile Endgeräte.


Aber nicht jede Sprechstunde kann sie über Video abhalten. Psychiatrische Patient:innen haben oftmals Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen. Für die Medikamentenaufklärung, bei der sie ihren Patient:innen Schritt für Schritt vermittelt, wie zum Beispiel die Informationsverarbeitung im Gehirn funktioniert und wie die Medikamente dabei wirken, kommt für sie nur eine Präsenzsprechstunde infrage. „Das hat sich bewährt; damit erziele ich eine gute Compliance“, erklärt sie. Während die Dauer der Sprechstunde bei anderen Fachgruppen variiert, veranschlagt sie für jedes Patient:innengespräch zwischen 30 und 60 Minuten. Schon bald nach Beginn der Pandemie war ihr klar, dass sie sich allein schon wegen der Aerosolbildung nicht 60 Minuten mit einzelnen Patient:innen im selben Raum aufhalten kann. Da sich immer nur jeweils ein:e Patient:in in ihrer Praxis aufhält, hat sie das Wartezimmer mit einer Plexiglasscheibe und -tür in einen Patient:innen- und einen Therapeutinnenbereich unterteilt. Die Ärztin hält die Sitzung im Wartezimmer ab – getrennt von den Patient:innen durch die Plexiglastür. Nach jeder Sitzung lüftet sie für eine Viertelstunde den Patient:innenbereich und desinfiziert die Möbel. Angesichts des hohen zeitlichen Aufwands für die Hygienemaßnahmen hat es sich bewährt, jeweils zwei Videosprechstunden, gefolgt von einer Präsenzstunde, abzuhalten.


Nach dem Einloggen warten die Patient:innen meist pünktlich und geduldig im virtuellen Wartezimmer. Diese Erfahrung haben auch andere Ärzt:innen gemacht. Während es vor Ort in der Praxis oft zu Beschwerden wegen langer Wartezeiten kommt, sind die Nutzer:innen der Videosprechstunde offenbar weitaus geduldiger, wenn sie sich in den eigenen vier Wänden aufhalten. Dies beobachtet auch Dr. Cordula Sohst-Brennenstuhl. Die Hausärztin aus Hamburg wollte ebenfalls schon vor Corona eine Videosprechstunde anbieten. In der Pandemie dann hätten es ihr die strengen Hygieneregeln unmöglich gemacht, alle Patient:innen weiterhin in der Praxis zu behandeln, erklärt sie. „Durch die zusätzlich angebotenen Videosprechstunden kann ich auch unter den erschwerten Bedingungen einer Pandemie meine Patient:innen versorgen“, stellt sie fest. Patient:innen würden inzwischen sogar aktiv nach einer Videosprechstunde fragen, teilweise haben sie aus dem Internet oder über Mund-zu-Mund-Propaganda davon erfahren. Im Verlauf der Pandemie ist die Zahl ihrer Videosprechstunden stark angestiegen. Waren es zu Beginn durchschnittlich vier bis fünf, sind es heute zehn und mehr pro Tag, an manchen Tagen sogar bis zu 20 Videosprechstunden.


Eine Videosprechstunde dauert bei ihr länger als eine Präsenzsprechstunde, weil sie sich den Kopfhörer aufsetzen und überprüfen muss, ob die Internetverbindung funktioniert. Anfangs lief auf Patient:innenseite nicht immer alles rund. Manche hatten vergessen, die Kamera oder das Mikrofon einzuschalten, oder sie verwendeten einen nicht kompatiblen Browser. Diese Anlaufschwierigkeiten sind inzwischen behoben. Viele ihrer Patient:innen haben sich auch durch Videokonferenzen im Job an das neue Medium gewöhnt. „Das Ganze ist ein Lernprozess“, erklärt sie.


Ihre Videosprechstunden hat die Hausärztin in festen Blöcken organisiert. Bei akuten Fällen, wie zum Beispiel einer Bindehautentzündung oder einer Erkrankung mit hohem Leidensdruck, schiebt sie eine Videosprechstunde außerplanmäßig dazwischen. „Die Videosprechstunde bietet sich wunderbar bei Patient:innen mit Erkältungssymptomen an“, erklärt sie. Am Telefon könne sie zwar den Patienten husten hören. „Aber ich sehe nicht, wie krank er aussieht.“ Sie hat sogar schon Mandelentzündungen mit der Videosprechstunde behandelt. Die Patient:innen müssen dazu den Kopf in den Nacken legen, den Mund öffnen und mit der Taschenlampe ihres Smartphones den Rachen ausleuchten. „Man muss einfach erfinderisch sein“, lautet ihr Credo. Die Ärztin stellt sich auch mal vor die Webcam und macht dem Patienten vor, wie er in seinen Oberbauch drücken soll. „Tut das weh?“ Dann müssen es die Patient:innen ihr spiegelverkehrt nachmachen und die Frage beantworten.


Auch Professor Dr. Peter Weyrich, der in München-Unterhaching ein Nierenzentrum leitet, nutzt die Videosprechstunde zur Diagnose. Medikamentenunverträglichkeiten seiner Patient:innen zeigen sich manchmal auch durch Hautbefunde. Die Patient:innen stehen am Morgen vor dem Spiegel und erkennen eine Auffälligkeit wie zum Beispiel einen Hautausschlag oder haben bei Überwässerung eine Eindruckstelle am Unterschenkel. Über die Kamera kann er aus der Ferne eine Blickdiagnose vornehmen.

 

Die Videosprechstunde stand auch hier bereits vor der Pandemie auf seiner To-do-Liste. „Bei Patient:innen mit einem geschwächten Immunsystem ermitteln wir vor Ort die Laborwerte oder beurteilen mit Ultraschall die Nieren und besprechen die Ergebnisse und alles Weitere in einer Videosprechstunde.“ Dabei hat sich für ihn die Funktion der Bildschirmfreigabe als besonders nützlich erwiesen. ­Professor Weyrich hat sehr viele Patient:innen mit komplexen Krankheitsbildern, viele mit transplantierter Niere. Er nutzt die Bildschirmfreigabe, um seinen Patient:innen die oft komplexen Medikationspläne bildschirmfüllend anzuzeigen und die Einnahme der Medikamente didaktisch zu erläutern. „Am Telefon würde ich dafür länger benötigen.“ Der Nierenspezialist tauscht mit dem neuen Medium auch Daten aus. Nach der Videosprechstunde stellt er den Patient:innen den Medikationsplan als PDF-Dokument zum Herunterladen zur Verfügung. Die Bildschirmfreigabe nutzt er darüber hinaus zur Befundbesprechung, indem er seinen Patient:innen auf dem Monitor Aufnahmen aus der Radiologie oder Sonografie einblendet oder Laborkurven erläutert. „Das geht am Telefon nicht“, erklärt er. „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.“


Professor Weyrich plant für jede Online-Videosprechstunde pauschal 30 Minuten. Das reicht für eine ausführliche Besprechung und es bleibt Zeit für die Dokumentation oder für weitere Telefonate. Coronabedingt kann eine Videosprechstunde in Einzelfällen jedoch bis zu 50 Minuten in Anspruch nehmen. „Die Menschen sind zuweilen froh, wenn sie während des Lockdowns mit jemandem sprechen können. Das Gespräch gibt ihnen die Sicherheit, dass wir uns um sie kümmern, auch wenn sie nicht in der Praxis sind.“ Probleme bei der Videosprechstunde verortet er nicht bei seinen Patient:innen („mein ältester Videosprechstunden-Patient ist 94“), sondern eher bei deren veralteten Endgeräten. Auf einem sechs oder sieben Jahre alten Smartphone laufen nicht alle notwendigen Funktionen für die Videosprechstunde, oder die Kameraleistung des Uralt-Laptops ist zu schwach. Ein weiterer limitierender Faktor ist oft eine zu geringe Internetgeschwindigkeit.


Die Corona-Pandemie hat nicht nur der Videosprechstunde zum Durchbruch verholfen, sie hat auch die Abläufe verändert. Die Hausärztin Dr. Roshan Henneberg etwa betreibt in Berlin eine Corona-Schwerpunktpraxis. Das bedeutet, dass sie seit Beginn der Pandemie ihre Praxis anders strukturiert hat. Die Behandlung erfolgt gestaffelt. Infektpatient:innen kommen zu einem anderen Zeitpunkt in die Praxis als verdachtsfreie Patient:innen. Patient:innen, die nach einem Abstrich positiv auf Corona getestet wurden, betreut die Ärztin per Videosprechstunde aus der Ferne. Aber auch alle anderen Patient:innen, die nicht in der Lage sind, in die Praxis zu kommen, können eine Videosprechstunde mit ihr vereinbaren. Üblicherweise finden die Videosprechstunden nach dem Ende der Präsenzsprechstunde statt. Es kommt aber auch vor, dass ihre Medizinische Fachangestellte eine Videosprechstunde zwischen zwei Präsenzsprechstunden platziert. „Das spielt für mich keine Rolle“, entgegnet sie, die gerne noch mehr Videosprechstunden anbieten würde. Viele Patient:innen schätzen allerdings nach wie vor den persönlichen Kontakt und kommen lieber selbst in die Praxis.


Fazit
Viele Praxen sammeln derzeit eigene Erfahrungen mit der Videosprechstunde und nutzen sie, um ihren Patient:innen einen niedrigschwelligen Zugang zu ärztlichen Konsultationen zu ermöglichen. Sowohl bei den Ärzt:innen als auch bei den Patient:innen kommt die neue Art des Gesprächs im Grundsatz gut an. Die Videosprechstunde erfordert keine tie­fer gehenden Technikkenntnisse aufseiten der Ärzt:innen, jedoch ab und an Geduld mit ihren Patient:innen, bis diese die neue Kommunikationsform beherrschen. Nach einhelliger Meinung der heute per Videosprechstunde behandelnden Ärzt:innen sollte diese nach der Pandemie ohne Begrenzungen in Menge und Vergütung beibehalten werden.



Dieser Beitrag ist ebenfalls erschienen in der Zeitschrift x.press  21.2