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Stell Dir vor, es gibt ePA, und keiner merkt's

Nach zwei Jahrzehnten Vorbereitung wurde Anfang 2021 die elektronische Patientenakte (ePA) in Deutschland eingeführt. Seither werkeln viele an ihr herum, und noch mehr schimpfen über sie. Mit der ePA 2.0 rückt jetzt die Großbaustelle Medizinische Informationsobjekte (MIO) stärker in den Fokus. Was muss passieren, damit Tools, an deren prinzipiellem Nutzen niemand zweifelt, auch wirklich in der Versorgung ankommen?

Bild: © Dmytro – stock.adobe.com, 392812015, Stand.-Liz.

Nachdem Oliver Merx vor zwei Jahren, im Alter von 55 Jahren, an einem seltenen, neuroendokrinen Bauchspeicheldrüsentumor erkrankt war, saß er irgendwann im Sommer 2021 mit seiner Frau Michaela, seit Langem Multiple-Sklerose-Patientin, vor einem Haufen Papierunterlagen und beide fragten sich, ob das mit dem ganzen Papier in der Medizin wirklich so sein muss. Sie beantworteten die Frage für sich mit Nein, beschlossen, etwas dagegen zu tun und versuchten es mit den zu diesem Zeitpunkt noch recht neuen elektronischen Patientenakten (ePA) ihrer Krankenkassen. Aus dem Versuch wurde ein Projekt. Michaela und Oliver Merx digitalisierten nicht nur die eigenen Krankenunterlagen und luden sie in die jeweiligen ePA-Apps hoch. Sie gründeten im Februar 2022 auch gleich noch das „ePA-Magazin“, ein Online-Magazin rund um die ePA von und für Patient:innen (www.epa-magazin.de). Die Publikation leistet Aufklärungsarbeit: „Von wem erhalte ich meine ePA?“, „Wer bezahlt meine ePA?“ oder „Wie aktiviere ich meine ePA?“, das sind zen­trale Artikel in der Basics-Sektion des Magazins. Dazu kommen mehrteilige Tutorials für den Dokumenten-Upload, Tipps für Ärzt:innen, Video-Interviews und mehr.


Wer Oliver und Michaela Merx fragt, warum sie von dem Konzept einer ePA so überzeugt sind, der bekommt klare Antworten: Da ist zum einen die Archivfunktion, sozusagen der digitale Leitz-Ordner. Das Zweite ist die Möglichkeit, archivierte Daten quasi per Klick mit Ärzt:innen teilen zu können. Das Dritte, was die beiden hervorheben, ist die Stellvertreterregelung, also die Möglichkeit, Familienmitgliedern oder anderen Angehörigen zu erlauben, mit den eigenen Daten zu arbeiten: „Auf diese Weise werden innerfamiliäre Netzwerke unterstützt, das überzeugt uns sehr“, so Merx.


Eigentlich sollte die ePA ein Selbstläufer sein
Es sind also relativ fundamentale Dinge, die Patient:innen an einer ePA schätzen. Und ganz ähnlich klingt das eigentlich auch aufseiten der Ärzt:innen. Wer Nicolas Kahl, Allgemeinmediziner in Nürnberg, fragt, was er vom Konzept einer ePA hält, der hört Positives: „Wenn das mal richtig funktioniert, dann wird das genial. Wenn wir irgendwann in Praxen und Krankenhäusern alle gemeinsam auf die gleichen Dokumente zugreifen können, das ist superhilfreich. Dann rufen weniger Leute aus dem Krankenhaus an, die den Katheterbefund von vor drei Jahren suchen, ich muss Medikationsplänen weniger hinterhertelefonieren und so weiter.“


Wer das so liest, der kann eigentlich nur zu dem Schluss kommen, dass eine ePA in einem Gesundheitswesen wie dem deutschen leicht zu „verkaufen“ sein sollte. Allein, die Realität sieht anders aus. Vierzehn Monate nach dem Termin, ab dem die Krankenkassen verpflichtet waren, eine ePA in der Version 1.0 anzubieten, und zwei Monate nachdem diese Ur-ePAs auf die bessere Version 2.0 upgegradet wurden, die es erlaubt, Zugriffsrechte auf Dokumentenebene zu vergeben, hatten Anfang März 2022 gerade einmal 400 000 von rund 73 Millionen GKV-Versicherten eine ePA beantragt. 70 Prozent dieser ePAs steuerte allein die Techniker Krankenkasse (TK) bei.


Baas: Zu früh für eine Fernsehkampagne
TK-Chef Jens Baas sieht im Gespräch mit E-HEALTH-COM die mangelnde Anbindung der medizinischen Einrichtungen als wichtigsten Grund für die geringe ePA-Akzeptanz. Zwar haben die PVS-Hersteller die entsprechenden ePA-Module in den Praxisverwaltungssystemen (PVS) zumindest für die ePA in der Spezifikation 1.0 mittlerweile weitgehend zur Verfügung gestellt. Genutzt werden diese Module aber nur sehr vereinzelt. Eine Anbindung von Krankenhäusern gibt es noch gar nicht. „Es ist schön, wenn Akten von Patient:innen gefüllt werden. Aber der echte Mehrwert entsteht erst, wenn die ePA flächendeckend in den Arztpraxen ankommt“, so Baas.


Man kann es auch etwas drastischer formulieren: Es gibt kaum eine medizinische Einrichtung, die mit der ePA arbeitet. Eineinviertel Jahre nach ihrem Start ist die ePA in der deutschen Gesundheitsversorgung schlicht noch nicht angekommen. Der mehr oder weniger einzige Weg, genuin medizinische Dokumente in die ePA zu bekommen, ist das, was Michaela und Oliver Merx machen, nämlich die eigenen Papierunterlagen selbst digitalisieren und sie in die ePA hochladen – um das alles dann auch in ­Eigenregie aktuell zu halten. Die mangelnde Verbreitung der ePA in den medizinischen Einrichtungen ist für Baas dann auch der Grund, warum die Krankenkassen noch keine Informationskampagnen in Sachen ePA initiiert haben: „Wenn wir eine große Fernsehkampagne starten, und beim Arzt funktioniert es dann nicht, ist der Akzeptanz der ePA sicher nicht geholfen.“


Praxis-IT-Branche fremdelt mit der ePA
Was ist da los in den Arztpraxen? Einer, der es wissen könnte, ist Erich Gehlen, Geschäftsführer des Anbieters von Praxisverwaltungssystemen (PVS) Duria in Nordrhein-Westfalen: „Wir haben die ePA-1.0-Funktionen mit dem letzten Update 2021 ausgeliefert. So viel ich weiß, gibt es aktuell bei unseren Kunden eine einzige Praxis im Raum Berlin, die das schon ausprobiert hat, und das auch nur, weil die KV eine Veranstaltung dazu gemacht hatte.“ Als reinen Dokumenten-Safe, der zudem noch nicht einmal von Krankenhäusern genutzt werden kann, hält Gehlen die ePA 1.0 nur für begrenzt attraktiv für Arztpraxen.


Mit der Anfang 2022 auf Versichertenseite eingeführten ePA 2.0 sollte sich das mit der begrenzten Attraktivität eigentlich ändern: Die ePA 2.0 kann gemäß Spezifikation der gematik mit strukturierten Datensätzen umgehen, so genannten Medizinischen Informationsobjekten (MIO). Die könnten zwischen ePA und Primärsystemen ausgetauscht werden, sie ließen sich, da sie mit internationalen Nomenklaturen und Terminologien wie SNOMED CT und LOINC hinterlegt sind, durchsuchen und von einem Dokument in ein anderes übertragen. Alles Konjunktive, denn Stand März 2022 gab es noch kein größeres PVS, das die ePA 2.0 umgesetzt hatte. Damit sind auch die MIOs bisher nur graue Theorie. Es fließt viel Arbeit hin­ein, aber noch niemand nutzt sie.


Dass die Praxis-IT-Branche in Sachen ePA-2.0-Umsetzung fremdelt, hat eine ganze Reihe an Gründen. Das detaillierte Rechte- und Rollenmanagement, das die Datenschützer der ePA 2.0 mit ins Stammbuch geschrieben hatten, hat damit interessanterweise nichts zu tun: „Das haben wir uns angesehen, und es sieht uns vom Aufwand her nicht so dramatisch aus. Das sollte funktionieren“, so Gehlen. Schwerer wiegt, dass für die ePA 2.0 die TI-Konnektoren mit dem PTV5-Update versehen sein müssen, was Stand März 2022 noch nicht gewährleistet war. Eine Finanzierungsvereinbarung für das PTV5-Update gab es Stand März 2022 ebenfalls noch nicht. Auch gibt es Probleme bei den Testumgebungen. Vor allem aber, so Gehlen, und das gelte für ePA 2.0 und ePA 1.0 in ähnlicher Weise, sei die ePA-Bedienung auf ärztlicher Seite nur begrenzt praxistauglich.


Es mangelt an Prozessen und Praxistauglichkeit

Zu tun hat das mit den Prozessen um die ePA herum. Die können für Ärzt:innen rasch ziemlich mühsam werden. Ein Stichwort dabei sind die Metadaten der ePA-Einträge: Sollen Dokumente oder Datensätze in der ePA sortiert werden, dann sind Metadaten wie „Arztbrief“, „urologischer Patient“, „Echobefund“, „EKG“ und so weiter nötig. Wenn die jeweilige Datenquelle diese Metadaten nicht mitliefert, dann müssen die Nutzer das händisch eingeben, betont Allgemeinmediziner Kahl: „Ich kann das natürlich auch lassen, aber dann landet alles unsortiert in der ePA.“ Das ist dann die berühmte, digitale Aldi-Tüte voller unsortierter Dokumente.


Mangelhaft definierte Prozesse sind aus Sicht Gehlens auch eines von mehreren Problemen bei den MIOs: „Wir sitzen hier seit Monaten an der Umsetzung des Kinder-U-Hefts, und ganz ehrlich, ich sehe da wenig Erfolgsaussichten. Das wird so niemand nutzen.“ Auf Prozessseite sieht Gehlen schlicht zu viele Lücken bzw. zu viele nicht näher spezifizierte, alltagsrelevante Anwendungsfälle. So gebe es zum Beispiel keine Möglichkeit, eine U-Untersuchung, die abgebrochen werden muss, das nächste Mal fortzuführen: „Das ist einfach nicht vorgesehen.“ Andere Praxis-IT-Hersteller bemängeln, dass die Prozesse rund um die Aktualisierung von MIO-Inhalten nicht ausreichend beschrieben sind. Wenn bei einer Impfung das Impf-MIO um Impfstoff oder Chargennummer ergänzt wird, muss klar sein, wann das erfolgte und zu welchem Zeitpunkt die alten MIO-Inhalte dann gelöscht werden können. Das System muss irgendwie erkennen können, was der gerade aktuelle MIO-Inhalt ist – auch und gerade dann, wenn unterschiedliche Einrichtungen oder Personen mit einem MIO arbeiten.


Land unter bei den PVS-Herstellern
All diese Dinge sind lösbar, aber sie lösen sich nicht von heute auf morgen von selbst. Und angesichts der bisherigen Minimalakzeptanz der ePA bei den Ärzt:innen hat die Praxis-IT-Branche vielfach schlicht andere Prioritäten. Tatsächlich werden die PVS-Hersteller derzeit aus allen Richtungen mit neuen Anforderungen und ehrgeizigen, sich regelmäßig wieder verschiebenden Fristen geradezu zugeballert. Das ist in weiten Teilen noch eine Folge der Ära Jens Spahn, in der unheimlich viel angeschoben wurde, das jetzt abgearbeitet werden muss. Es hat aber auch damit zu tun, dass teils uralte Software-Generationen (endlich) abgelöst werden müssen, was Kapazitäten bindet.


Und es hat mit dem neuen Gesundheitsminister Karl Lauterbach zu tun, der die Digitalisierung bisher nicht prioritär behandelt hat und der in einer von der KBV ausgerichteten Fragestunde für die ärztliche Basis Anfang März mit einer geradezu erschreckenden Unkenntnis bei diesem Themenbereich auffiel.
Klar ist: Durch die Art und Weise, wie die Bundesregierung und die gematik – eine 51%-Tochter des Bundesgesundheitsministeriums mit Minderheitsgesellschaftern aus den Reihen der Selbstverwaltung – neue Telematikanwendungen derzeit einführt, werden Arztpraxen und ihre IT-Hersteller quasi zu Betatestern gemacht. Seit der Einführung der ePA 1.0, die bei den meisten IT-Systemen im vierten Quartal 2021 erfolgte, werden Fehler ausgebügelt, Kinderkrankheiten beseitigt, kurz: Es dauert, bis das einigermaßen rundläuft. „Wenn etwas in der Referenzumgebung lauffähig ist, heißt das noch nicht automatisch, dass es auch in der Produktivumgebung lauffähig ist“, so Gehlen. Dass die ePA 2.0 mit der Einführung von MIOs vergesellschaftet ist, macht es nicht einfacher: Bei allen Vorteilen, die einheitliche Nomenklaturen wie SNOMED CT und LOINC und einheitliche Kommunikationsstandards wie HL7 FHIR haben, gelten die so beschriebenen Informationsobjekte bei den IT-Praktikern als enorm voluminös und schwierig zu handhaben.


Interesse der Industrie steigt
Szenenwechsel nach Berlin, ins Bermudadreieck zwischen Bundesgesundheitsministerium, gematik und Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV), dem Gesellschafter der mio42 GmbH. Letztere entwickelt im Rahmen eines komplexen, gesetzlich geregelten Abstimmungsprozesses seit rund anderthalb Jahren jene Medizinischen Informationsobjekte (MIOs), die Struktur in die ePA bringen und damit Ärzt:innen endlich den Mehrwert verschaffen sollen, den viele derzeit noch vermissen. Das MIO-Spek­trum ist breit, und es umfasst sowohl gesetzlich vorgegebene MIOs als auch solche, die eigeninitiativ gestartet wurden (siehe Kasten S. 17).


Kerstin Bieler, Abteilungsleiterin MIO bei der mio42, ist mit der Entwicklung in den anderthalb Jahren seit Gründung zufrieden: „Es ist toll, wie viele sich an den Kommentierungsverfahren beteiligen. Wir sind wirklich begeistert, wie viel Feedback wir bekommen.“ Ja, es stimme, die IT-Industrie sei anfangs zögerlich gewesen. Doch dies ändere sich gerade: „Die Unternehmen waren sehr beschäftigt mit anderen Themen. Wir spüren mittlerweile mehr Lust, sich früher zu beteiligen, und das ist auch sehr wichtig.“ Dass den MIOs seitens der Industrie auch Kritik entgegenschlägt, kann Bieler in gewissem Umfang nachvollziehen. Gerade die beiden MIOs Mutterpass und Kinder-U-Heft seien komplex und entsprechend aufwendig umzusetzen.


Wenig Freiheit: MIO-Umsetzung ist auch angewandtes Sozialrecht
Nicht unkommentiert stehen lassen will sie den Vorwurf, die mio42 digitalisiere lediglich die Papierpässe eins zu eins und schöpfe damit die Möglichkeiten der Digitalisierung nicht aus. Dass MIOs wie der Mutterpass und das Kinder-U-Heft weitgehend digitale Kopien der Papierhefte seien, stimme zwar, so Bieler. Allerdings könne die mio42 nicht in Eigenregie eine Umstrukturierung sozialgesetzlich vorgegebener Datensätze vornehmen: „Wir können auch nicht einfach das Kinder-U-Heft um die U10 und die J1 ergänzen, die in der Papierversion fehlen.“ Das müsse von anderer Stelle kommen, und die Verantwortung dafür gehe teils bis hinauf zum Gemeinsamen Bundesausschuss
(G-BA): „Natürlich können wir Normierungsversuche starten, aber wir greifen damit in die Hoheitsgebiete von anderen ein und müssen da zumindest aufpassen.“


Leichte Optimierungen habe es allerdings gegeben, so Bieler. Beim Mutterpass betreffe das zum Beispiel die Mehrlingsschwangerschaften, die im MIO besser abgebildet seien als im Papierpass: „Klar ist, dass die Aufgabe nicht mit der Formulierung eines Datenformats endet. Es gibt unheimlich viele Prozesse um die MIOs herum, die letztlich politischer und regulatorischer Natur sind und um die wir uns als mio42 weder kümmern können noch kümmern wollen.“ Das fängt an mit Fragen zum prozessualen Umgang mit dem MIO Zahnbonusheft, wo der Bundesmantelvertrag (www.kzbv.de/bundesmantelvertrag.1223.de.html) zwischen GKV-Spitzenverband und Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung geändert werden müsste, und es reicht bis hin zu Abstimmungsprozessen im Kontext des MIOs Pflegeüberleitungsbogen, wo sich quasi wöchentlich neue Akteure melden.

 

Weiß eine Hand, was die andere tut? Das Beispiel Mutterpass
Ein Riesenproblem ist auch die fehlende übergreifende Koordination, die die gesamte Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens seit Jahren behindert. Ein Beispiel liefert das MIO Mutterpass, wo die Hebammen neben den Gynäkolog:innen eine zentrale Nutzergruppe sind. Nur: Die Hebammen sind von einem Anschluss an die TI noch recht weit entfernt. Was also nutzt ein MIO Mutterpass in der ePA zu einem Zeitpunkt, zu dem eine von zwei primären Nutzergruppen damit noch gar nichts anfangen kann?


Zum digitalen Mutterpass gab es im September 2021 eine G-BA-Diskussion: Patientenvertreter:innen forderten, dass Versicherte ein Anrecht auf beides haben müssten, den Papierpass und die digitale MIO-Version. Das wurde von Ärzteseite mit Hinweis auf die Probleme von Doppeldokumentation abgelehnt. Der G-BA schloss sich dieser Auffassung an und lehnte die redundante Datenhaltung mit Stimmen der KBV und des GKV-Spitzenverbands ab. „Die Folge dürfte sein, dass das MIO Mutterpass auf absehbare Zeit nicht genutzt werden wird“, sagt Mark Langguth aus Berlin, ein profunder Kenner der ePA-Welt. „Niemand, der bei Verstand ist, wird ein versorgungsrelevantes Dokument als MIO haben wollen, wenn schon vorher klar ist, dass es Probleme gibt, weil nicht alle es nutzen können.“


Pikant wird die Sache dadurch, dass der G-BA über den Innovationsfonds das Projekt M@dita fördert, das von OptiMedis gemeinsam mit AOK NordWest und TK umgesetzt wird. Dort wird ebenfalls ein digitaler Mutterpass erprobt, und hier ist vorgesehen, dass sowohl digitale als auch Papierversionen angelegt werden. Diese Doppeldokumentation wird dann auch gesondert vergütet. Das Beispiel zeigt, dass die Koordination von IT-bezogenen Entscheidungen selbst dann so ihre Tücken hat, wenn in beiden Fällen der G-BA zuständig ist. Auch bei OptiMedis ist man nicht zu einhundert Prozent glücklich. Manche Ärzt:innen und Hebammen fragen sich, ob es nicht sinniger ist, gleich auf das MIO Mutterpass zu warten. Immerhin: „Wir haben in der Kommentierungsphase des MIOs viele Anmerkungen machen können, weil im Rahmen unseres Projekts viele praxisrelevante Dinge aufgefallen sind, die wir weitergeben konnten“, sagt M@dita-Koordinator Martin Knüttel.


MIOs müssen besser pilotiert werden
Koordinationsbedarf gibt es auch an der Schnittstelle von mio42 und gematik. Im Prinzip ist die Aufgabenverteilung klar: Die mio42 definiert die Inhalte und stimmt sie mit allen Beteiligten ab. Die gematik kümmert sich um die technische Spezifikation der ePA und ringsherum um die TI. Der Teufel steckt aber im Detail. So richtet die mio42 zwar Connectathons aus, bei denen IT-Hersteller die Erzeugung, Übermittlung und Anzeige von FHIR-basierten MIOs in Primärsystemen oder ePA-Apps erproben können. Eine Referenzumgebung für die ePA 2.0 habe die gematik aber bisher nicht zur Verfügung gestellt, sodass die MIO-Connectathons ohne ePA-Komponenten stattfinden müssen. Ideal ist das nicht. „Wir würden uns schon wünschen, dass das alles etwas mehr aus einem Guss ist. Wir können auch nicht einfach die MIOs isoliert pilotieren, das muss im Kontext von ePA-Funktionalitäten sektorenübergreifend passieren“, so Bieler.


Aus der gematik kommen in diesem Punkt zumindest Signale: „Wir werden alles tun, um die nötigen Umgebungen bereitzustellen, damit Connectathons möglich werden, in denen mit Primärsystemen die komplette ePA-Kette getestet werden kann“, betont gematik-COO Florian Hartge. Was die prozessuale Einbettung der MIOs in die Praxisabläufe angeht, sieht er den Ball aber bei der mio42.
Mit Blick auf die bisher suboptimale Akzeptanz der ePA auf Leistungserbringerseite wünscht sich Hartge mehr Information. Nicht nur den Ärzt:innen, auch den medizinischen Fachangestellten (MFA) der Praxen müsse kommuniziert werden, warum es die ePA gebe und welche Vorteile sie mit sich bringe. Verbesserungsmöglichkeiten sieht er auch noch bei der Umsetzung der ePA durch zumindest einen Teil der Praxis-IT-Hersteller: „Es braucht eine halbwegs liebevolle Umsetzung. Die Ärzt:innen müssen es auch gut finden, damit zu arbeiten. Es darf sich nicht anfühlen wie eine Pflichtübung.“


Anwender:innen stärker einbeziehen

Eng kooperieren müssen mio42 und gematik in jedem Fall bei einem der nächsten MIOs, das entstehen soll, bei der Patientenkurzakte. „Die bekommt einen besonderen Status innerhalb der ePA“, so Hartge. „Sie wird eine eigene Säule und erhält auch ein eigenes Berechtigungskonzept.“ Es gilt in Berlin als zumindest plausibel, dass die Patientenkurzakte eine Art Default-Anwendung der ePA werden könnte, wenn die Politik bei der ePA – wie der Koalitionsvertrag das vorsieht – irgend-wann vom derzeitigen Opt-in- auf ein Opt-out-Modell umschaltet.


Klar ist: Ein Opt-out-Modell für eine ePA, die in der Versorgung überhaupt nicht oder kaum präsent ist, könnte in Sachen Akzeptanz nach hinten losgehen. Marcel Weigand, der mehrjähriges Vorstandsmitglied im Aktionsbündnis Patientensicherheit war und bei der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) zuständig für Kooperationen und digitale Transformation ist, hält ein Opt-out-Modell für sinnvoll: „Ich denke schon, dass der Opt-out ein ganz entscheidender Schritt sein wird. Das haben wir ja auch in Frankreich gesehen, wo die ePA mit Opt-in kläglich gescheitert ist und dann auf Opt-out umgestellt wurde. Trotzdem würde ich nichts überstürzen. Wir würden der ePA damit nur einen Gefallen tun, wenn wir beim Funktionsumfang und der Usability deutlich nachbessern. [...] Es ist für mich nicht nachvollziehbar, weshalb die meisten Krankenkassen nach knapp 20 Jahren nicht mehr aus der ePA machen.“


Generell wünscht sich Weigand, dass die ePA in Deutschland weniger als der rein patientengeführte Daten-Safe verstanden wird, als der sie manchmal dargestellt wird: „Die heile Welt aus lauter superinformierten Patient:innen, die jederzeit abschätzen können, ob und für wen irgendein medizinisches Dokument in drei Jahren im Notfall relevant sein könnte oder nicht, die gibt es so nicht, jedenfalls nicht in der Breite.“ Aus Weigands Sicht muss die ePA stärker als ein Unterstützungs-Tool für sowohl Patient:innen als auch Behandelnde konzipiert werden: „Ein wichtiger Punkt dabei wäre eine sehr viel stärkere Einbeziehung der Anwender:innen bereits in der Konzeptionsphase, zum Beispiel mithilfe von Fokusgruppen sowohl bei den Behandelnden als auch bei den Patient:innen.“


Was bringt die Zukunft?
Dafür könnte jetzt ein guter Zeitpunkt sein, das sieht nicht nur Weigand so: Die neue Regierung steht qua Koalitionsvertrag strukturellen Reformen im Zusammenhang mit der Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens zumindest aufgeschlossen gegenüber, Stichwort Umwandlung der gematik in eine Bundesagentur und Einführung des besagten Opt-outs. Technisch steht die TI 2.0 vor der Tür, also der Umstieg auf ein moderneres, weniger stark chipkartenabhängiges ID-Management. Und im Bundesgesundheitsministerium übernimmt mit Susanne Ozegowski ab April 2022 eine „Neue“ die Abteilung Digitalisierung, die in Sachen ePA eine ganze Menge Erfahrung aus ihrer Zeit bei der Techniker Krankenkasse mitbringt.


„Ich glaube, es macht Sinn, die gematik noch unabhängiger von der Selbstverwaltung zu machen und sie in die Lage zu versetzen, Vorgaben zu machen, die nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner darstellen. Und wir sollten uns auch von einigen Auflagen trennen, die dazu führen, dass digitale Anwendungen im deutschen Gesundheitswesen kaum noch handhabbar sind“, so Weigand. Er weiß, wovon er spricht, denn er hat sowohl die ePA-App seiner Krankenkasse als auch die E-Rezept-App der gematik selbst getestet: „Bei der E-Rezept-App habe ich mehr als zehn Versuche gebraucht, um die Erstanmeldung zu bewerkstelligen. Und bei der ePA-App dauert es jedes Mal unendlich lange, bis ich überhaupt bei der Aktenansicht bin. Im Moment wirkt das für mich etwas wie aus der Zeit gefallen. Dennoch bin ich froh, dass wir solche Anwendungen endlich auch in Deutschland nutzen können.“