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USA: Wie weiter unter Biden?

Neue Regierung, neue Gesundheitspolitik? Der US-Präsident Biden will Obamacare, das die Trump-Ära nur mühsam überlebt hat, ausbauen. Republikaner und Demokraten sind sich zudem einig, dass es im US-amerikanischen Gesundheitssystem weiter in Richtung Value-Based Care gehen soll. Eine Entwicklung, die uns auch in Deutschland nicht fremd ist.

Quelle: © The White House (M)

Die Einführung des landläufig als Obamacare bezeichneten Affordable Care Act (ACA) 2010 war die größte Reform des US-amerikanischen Gesundheitssystems seit der Einführung von Medicare und Medicaid im Jahre 1965. Doch das Gesetz stand von Anfang an unter Beschuss vonseiten der Republikaner, für die die Einführung einer Krankenversicherungspflicht wie der erste Schritt auf dem Weg in den Sozialismus schien. 2017 höhlte der damalige Präsident Trump bereits diese Versicherungspflicht aus, indem er die steuerlichen Konsequenzen für Nichtversicherte kippte. Und noch im November 2020 hatte die Trump-Regierung einen letzten Versuch unternommen, den ACA zu kippen. Die Entscheidung, ob eine im Jahr 2017 vorgenommene Änderung das ganze Gesetz verfassungswidrig macht, liegt zurzeit noch beim Surpreme Court, in dem aktuell zwei Richter und eine Richterin sitzen, die von Trump nominiert wurden. Die Entscheidung ist ausstehend.
Trotz aller Anfechtungen erreichte Obamacare eine deutliche Verringerung des Anteils der Nichtversicherten: Betrug dieser 2010 bei den 18- bis 64-Jährigen noch 22,3 Prozent, so war er 2016 schon auf 12,4 Prozent gesunken.1 In der Gruppe der Erwachsenen ohne Kinder unterhalb der Armutsgrenze sank die Rate der Unversicherten sogar von 45,4 Prozent auf 16,5 Prozent. Insgesamt sind heute 20 Millionen US-Amerikaner:innen mehr krankenversichert als vor Einführung des Gesetzes.


Der neue US-Präsident Joe Biden kündigte schon während des Wahlkampfes an, Obamacare weiter stärken und ausbauen zu wollen. Er war als Vizepräsident unter Obama für die Einführung mit zuständig gewesen. Ein Programm ähnlich dem Medicare – der Krankenversicherung für Senior:innen in den USA – solle zu günstigen Beiträgen für alle verfügbar werden. Außerdem kündigte er im Wahlkampf an, das Eintrittsalter für Medicare von 65 auf 60 zu senken und zusätzliche Leistungen wie Zahnersatz sowie Hör- und Sehhilfen erstatten zu lassen. Medicaid als Angelegenheit der einzelnen Bundesstaaten solle durch finanzielle Unterstützung aus Washington gestärkt werden. Trumps Linie während seiner Regierungszeit war dagegen prinzipiell die Senkung von Gesundheitsausgaben sowie die Delegierung von gesundheitsbezogenen Entscheidungen an die einzelnen Bundesstaaten.2

Parteiübergreifendes Ziel: Value-Based Care
Ungewöhnliche Einigkeit herrscht jedoch bei Demokraten und Republikanern über die Notwendigkeit von Value-Based Care im Gesundheitssystem. Dieses Konzept wurde erstmals 2006 vom Ökonom Michael E. Porter vorgeschlagen3, der seit den 1970er-Jahren vor allem für seine Arbeiten zum Thema Wettbewerbsstrategien in Märkten bekannt ist. Während die herkömmliche Versorgung lediglich anhand von wenigen Outcomes bewertet wird, die oft Worst-Case-Szenarien abbilden (wie etwa die Mortalitäts- oder Rezidivrate), soll in der Value-Based Care ein breites Spektrum von patientendienlichen Outcomes berücksichtigt und in ihrem Verhältnis zu den eingesetzten Ressourcen ökonomisch bewertet werden. Nicht mehr und umfangreichere Behandlungen sollen mit Anreizen versehen werden, wie im weithin üblichen Fee-for-Service-Modell, sondern ein besserer Gesundheitszustand der Bevölkerung.


„Value is measured by the outcomes achieved, not the volume of services delivered […] Accountability for value should be shared among the providers involved. Thus, rather than ‚focused factories‘ concentrating on narrow groups of interventions, we need integrated practice units that are accountable for the total care for a medical condition and its complications“.4

 

Patientenzentrierung und Messung der Patientenzufriedenheit
In der Value-Based Care soll das Gesundheitssystem also nicht mehr auf die Leistungserbringer:innen zen­triert und entlang von Fachgrenzen fragmentiert, sondern patientenzen­triert sein. Leistungserbringer:innen und die von ihnen erbrachte Versorgung müssen sich an der erreichten Lebensqualität der Patient:innen messen lassen.


Ein erster Schritt in Richtung Value-Based Care wurde mit dem ACA unter Obama im Jahr 2010 mit der Einführung von Accountable Care Organizations (ACOs) gemacht: Dies sind Zusammenschlüsse von Leistungserbringer:innen (Ärzt:innen, Therapeut:innen, Krankenhäusern und anderen), die ihre Versorgung miteinander koordinieren und von der Versicherung Medicare finanziell belohnt werden, wenn sie unnötige Leistungen einsparen und dabei eine gute Versorgungsqualität sicherstellen. ACOs gibt es in verschiedenen Ausprägungen – so werden beispielsweise Leistungserbringer:innen finanziell an Einsparungen beteiligt, haften aber in anderen Modellen auch für Kostensteigerungen im Vergleich zu vorher.


Von HMOs zu ACOs
ACOs erinnern damit vom Konzept her an Health Maintenance Organizations (HMOs), die seit den 1970er-Jahren in den USA existieren. Hierbei handelt es sich um Versicherer, die entweder Leistungserbringer:innen direkt anstellen oder mit ihnen Verträge abschließen. Die Leistungserbringer:innen erhalten ein pauschales Entgelt für die Versorgung der Versicherten und sind in der Regel restriktiv, was die zur Verfügung stehenden medizinischen Leistungen angeht.


Umgesetzt wird dies in den Value-Based Payment- oder VBP-Programmen hauptsächlich durch standardisierte Fragebögen wie das Hospital Consumer Assessment of Healthcare Providers and Systems (HCAHPS). Diese erheben, wie Patient:innen die Versorgung erleben, im Sinne eines sogenannten Patient Experience Measurement. Auf der Basis dieses Ergebnisses sowie einer Evaluation von Prozessen und Outcomes erhalten die Leistungserbringer:innen Prämien. Solche VBPs werden beispielsweise im Rahmen der staatlichen Medicare, aber auch von bundesstaatlichen Programmen und privaten Versicherern umgesetzt. Die Patientenzufriedenheit soll dabei im VBP von Medicare erstmals im Jahr 2023 genauso schwer wiegen wie Prozesse und Outcomes zusammengenommen.


Wer trägt das finanzielle Risiko?
Das finanzielle Risiko für Leistungserbringer:innen war zum Start des ACA im Jahr 2010 von Obama erst einmal gering gehalten worden, um eine möglichst breite Beteiligung zu erreichen. Das Standardmodell des VBP in Medicare arbeitete zunächst nur mit Bonuszahlungen. Die Trump-Regierung änderte das Modell dahingehend, dass alle vertraglich für fünf Jahre gebundenen Leistungserbringer:innen innerhalb von zwei Jahren in ein Modell wechseln mussten, das auch eine Beteiligung bei Kostensteigerungen, gewissermaßen als Strafzahlungen, vorsieht.5 Wie Biden diese Modelle weiterentwickeln wird, steht noch nicht fest. Bekannt ist jedoch, dass er mehr Organisationen wie Krankenhäusern die Teilnahme an ACOs und VBPs ermöglichen will – Trumps Regierung hatte einen Fokus auf Modelle gelegt, die unter der Leitung selbstständiger Ärzt:innen standen.


Messung der Patient Experience muss verbessert werden
Die Messung der Patientenzufriedenheit mit Werkzeugen wie dem HCAHPS steht allerdings zunehmend in der Kritik – zum einen wegen der wenig evidenzbasierten Auswahl der Fragebogen-Items6, zum anderen wegen noch unzureichender Digitalisierung.7 Eine von fünf großen Krankenhausgesellschaften durchgeführte Studie8 hatte im Jahr 2019 ergeben, dass die Rücklaufquoten des HCAHPS immer geringer werden, dass für die Patient Experience wichtige Faktoren nicht abgefragt werden und dass der Fragebogen bei den Befragten eine zu hohe Gesundheitskompetenz (Health Literacy) voraussetzt. Unter den Empfehlungen, die in der Studie gegeben wurden, hatte die Digitalisierung des Surveys die höchste Priorität. US-amerikanische Anbieter von Gesundheits-IT-Lösungen haben seither schon digitale Versionen dieses und anderer Fragebögen ins Programm genommen.


HIPAA soll angepasst werden
Die Digitalisierung der Versorgung, sowohl zur Umsetzung von Value-Based Care als auch im Rahmen der Pandemie, wurde nach Meinung der Trump-Regierung von übertriebenen Datenschutzrichtlinien behindert – so äußerte sich etwa im Juli 2020 der US-Gesundheitsminister Alex Azar.9 Die Trump-Regierung stieß als eines ihrer letzten Projekte eine Lockerung des Gesundheitsdatenschutzgesetzes HIPAA an, um die Umsetzung von Value-Based Care zu  vereinfachen.10 Diese könnten erst nach der Amtseinführung von Joe Biden in Kraft treten. US-Kommentatoren gehen aber davon aus, dass einige der Änderungen die Zustimmung auch der Demokraten finden könnten – insbesondere solche, die die Transparenz des Systems für Patienten erhöhen. So sollen Arztpraxen etwa in Zukunft innerhalb von 15 statt wie bisher 30 Tagen Patient:innen auf Anfrage ihre Akten zur Verfügung stellen, und für den elektronischen Download soll keine Gebühr mehr anfallen dürfen.11

Und in Deutschland?
Die hier skizzierten Entwicklungen und Probleme im Bereich Value-Based Care werden so manche Leser:innen an die Integrierte Versorgung (IV) hierzulande erinnern, die vor 20 Jahren in § 140a des SGB V festgeschrieben wurde, aber nach einem enthusiastischen Start hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist. Zuletzt zeigte sich im Februar 2020 die Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung im Gesundheitswesen (DGIV) enttäuscht von den Entwicklungen der vergangenen Jahre und hoffte auf angekündigte neue Gesetzesinitiativen im Bereich sektorenübergreifende Versorgung. Diese sind – auch coronabedingt – noch nicht weiter gediehen.


Doch in Deutschland finden sich die Ansätze der Value-Based Care – Patientenzentrierung und gleichzeitig erhoffte Einsparungen für Kostenträger:innen – in der Idee der innovativen Gesundheitsregionen wieder, die von einer Gruppe aus Gesundheitssystemexpert:innen, Patientenvertreter:innen und Ökonom:innen um ­Helmut Hildebrandt (OptiMedis AG) kürzlich in der Zeitschrift „Welt der Krankenversicherung“ veröffentlicht wurde.12 Auch hier stellt sich vor allem die Frage der nachhaltigen Finanzierung und der Verteilung des finanziellen Risikos, die von Hildebrandt mit dem Vorschlag eines an den Gesundheitsfonds gekoppelten „Zukunftsfonds für regionale Gesundheit“ beantwortet wird. Sobald die gesetzgeberischen Notwendigkeiten der Pandemie vorerst abgearbeitet sind – und sobald sich die Bundesregierung nach der Bundestagswahl 2021 neu aufgestellt hat –, könnte es also auch in der deutschen Gesundheitspolitik wieder verstärkt um Value-Based Care und eine Rückkehr oder Revitalisierung der Integrierten Versorgung gehen.

 

Fussnoten

  1. https://www.nytimes.com/2020/03/23/health/obamacare-aca-coverage-cost-history.html

  2. https://www.npr.org/sections/health-shots/2020/10/22/926372475/comparing-bidens-and-trump-s-different-visions-for-health-care

  3. Porter, Michael E., and Elizabeth Olmsted Teisberg. Redefining health care: creating value-based competition on results. Harvard business press, 2006.

  4. Porter, M. “What is value in health care?” The New England Journal of Medicine. 363 26 (2010): 2477-81.

  5. https://www.hfma.org/topics/news/2020/11/big-value-based-payment-shifts-may-come-in-biden-administration.html

  6. Wadhera RK, Figueroa JF, Joynt Maddox KE, Rosenbaum LS, Kazi DS, Yeh RW. Quality Measure Development and Associated Spending by the Centers for Medicare & Medicaid Services. JAMA. 2020;323(16):1614–1616. doi:10.1001/jama.2020.1816

  7. https://www.aha.org/press-releases/2019-07-25-new-report-shows-benefit-modernizing-hcahps-patient-experience-survey

  8. https://www.aha.org/system/files/media/file/2019/07/FAH-White-Paper-Report-v18-FINAL.pdf

  9. https://www.hhs.gov/about/leadership/secretary/op-eds/trump-administration-aims-to-keep-telehealth-revolution-here-to-stay.html

  10. https://www.healthcaredive.com/news/trump-admin-proposes-easing-hipaa-to-foster-value-based-care-covid-19-cont/591986/

  11. https://www.insurancejournal.com/news/national/2020/12/14/593793.htm

  12. https://www.medhochzwei-verlag.de/Zeitschriften/WdK/Leseprobe/Kostenlose-Ausgabe-WdK-7-8-2020.pdf