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» Vernetzte Gesundheit auf dem Vormarsch «

Wie wird aus reiner Digitalisierung eine echte, vernetzte medizinische Versorgung? Dr. Joseph C. Kvedar berät einen der größten Krankenversorger Nordamerikas in Sachen vernetzter Versorgung und ist als Chefredakteur eines der sichtbarsten Forschungsmagazine zur digitalen Gesundheit auch wissenschaftlich an vorderster Front. Als langjähriger Verfechter von Telemedizin hat er ein digital integriertes Modell der Gesundheitsversorgung entwickelt, das die digitale Zukunft der Medizin greifbarer macht.

Dr. Joseph Kvedar ist Senior Advisor, Virtual Care bei Mass General Brigham, eine gemeinnützige Organisation, zu der die beiden weltbekannten Krankenhäuser Massachusetts General Hospital und Brigham and Women’s Hospital in Boston gehören. Er ist außerdem Chefredakteur des zur Nature-Gruppe gehörenden Fachmagazins npj Digital Medicine sowie Professor für Dermatologie an der Harvard Medical School, ebenfalls Boston. Nebenbei hat Kvedar Bücher und Essays geschrieben, darunter „The Internet of Healthy Things“ und „The New Mobile Age: How Technology Will Extend the Healthspan and Optimize the Lifespan“. Foto: © Joseph C. Kvdear / www.joekvedar.com

Im Rahmen eines neuen Versorgungsmodells verlagert Mass General Brigham die Gesundheitsversorgung aus dem Krankenhaus bzw. der Arztpraxis in Richtung Alltag der Patient:innen und deren Zuhause. Können Sie erläutern, wie Sie sich die vernetzte Gesundheit konkret vorstellen?
Das Ziel ist ein integriertes Erfahren der Versorgung seitens der Verbraucher:innen bzw. Patient:innen, bei dem sich digitale Schnittstellen und persönliche Interaktion gegenseitig ergänzen. Wenn Sie als Patient:in eine Gesundheitsleistung benötigen, sollten Sie grundsätzlich als Erstes zu einem mobilen Gerät greifen. Sie werden sich wahrscheinlich mit einem Chatbot in Verbindung setzen, der über alle Ihre klinischen Daten verfügt und auch Zugang zu von Ihnen selbst erhobenen Daten, etwa eines Activity Trackers, hat. Der Chatbot erkennt, ob Sie sofort eine persönliche Beratung benötigen. Wenn nicht, leitet er Sie durch einen Prozess, um die richtige Versorgung für Sie zu finden, persönlich, per Video, Notaufnahme usw. Weitere Funktionen könnten integriert werden, etwa Navigationsfunktionen oder auch Angaben zu Wartezeiten von Notaufnahmen oder Notarztpraxen.

Für die Dachorganisation von Mass General Brigham, Partners Healthcare, haben Sie unter dem Stichwort Partners Connected Health zahlreiche innovative digitale Gesundheitsprogramme ins Leben gerufen, und Sie haben ein Verständnis davon, was funktioniert und was nicht. Würden Sie einige Initiativen oder Fallstudien nennen, die für andere Gesundheitsökosysteme als Beispiel dienen könnten?
Vereinfacht gesagt, sind zwei Dinge wichtig. Das eine ist die Benutzerfreundlichkeit der Technologie. Verbraucher:innen erwarten eine benutzerfreundliche Technologie und wenn es um ihre Gesundheit geht, ist ihnen jede Ausrede recht, sich NICHT mit der Technologie auseinanderzusetzen. Das andere ist „Engagement“ bzw. Einbindung und Motivation. Wir haben gelernt, dass motivierende Elemente im Bereich der digitalen Gesundheitsversorgung besonders gut umgesetzt werden müssen. Viele Leute machen Vergleiche mit Apps wie Facebook oder Candy Crush, und es zeigt sich immer wieder, dass es viel schwieriger ist, Patient:innen für ihre Gesundheit zu begeistern als Verbraucher:innen für ein Spiel oder einen Kauf. Zu den Instrumenten, die sich unserer Erfahrung nach bei der Patienteneinbindung bewährt haben, zählen die Personalisierung, der Bezug zum Leben (statt zur Krankheit), soziale Bindung, unvorhergesehene Belohnungen, unterschwellige Botschaften und der Sentinel-
Effekt.

In Ihrem neuesten Buch „The New Mobile Age: How Technology Will Extend the Healthspan and Optimize the Lifespan“ schreiben Sie, dass „technologische Innovationen im Bereich der Gesundheit für eine bessere und reaktionsschnellere Gesundheitsversorgung für alle“ sorgen werden. Warum können wir mit traditionellen Mitteln keine bessere Versorgung erreichen, bzw. wo kann durch das Zusammenspiel von Menschen und Technologie eine Verbesserung erreicht werden?
Technologie kann dabei helfen, Mängel im Gesundheitswesen zu beseitigen, hauptsächlich indem sie One-to-many-Versorgungsmodelle ermöglicht, also Versorgungsmodelle, bei denen sich viele Einrichtungen oder Expert:innen gemeinsam um die Patient:innen kümmern anstelle der Eins-zu-eins-Situationen in der traditionellen Versorgung. In einem richtig konzipierten System erfolgt die erste Interaktion mit dem System über einen Bot oder Symptomprüfer. Auf der Grundlage von Fernüberwachungsdaten werden die Systeme proaktiv auf Sie zugehen, um Sie gesund zu halten. Die Gesundheitsdienstleister intervenieren nur dann, wenn die Situation so komplex ist, dass menschliches Eingreifen erforderlich ist.

Sie beschreiben auch, wie künstliche Intelligenz, Biomarker der menschlichen Stimme, Gesichtserkennung und soziale Roboter, die Emotionen analysieren, Gesundheitsprobleme erkennen bzw. vorhersagen, Lebensqualität steigern und bessere Beziehungen zu  Gesundheitsdienstleistern ermöglichen werden. Denken Sie, dass die Menschen das wollen? Werden neue Generationen eher bereit sein, mehr Gesundheitsüberwachung und -kontrolle zuzulassen – und damit Teile ihrer Privatsphäre aufzugeben?
Das hängt davon ab, wie wir das System entwerfen. Es wird nicht gut ankommen, wenn wir es so gestalten, dass die Menschen das Gefühl haben, dass das System in ihre Privatsphäre eingreift. Wenn wir es jedoch wie die Online-Händler so gestalten, dass die Patient:innen im Gegenzug Fürsorge, Bequemlichkeit und eine gute Gesundheit erhalten, werden die Menschen eher bereit sein, auch private Informationen preiszugeben.

In einer Ihrer TEDx-Reden riefen Sie dazu auf, eine integrierte Gesundheitsversorgung zu schaffen, unterstützt durch das „Internet der gesunden Dinge“. Sie nutzten Uber als Beispiel dafür, wie wir an die Patientenversorgung herangehen sollten. Was meinten Sie damit?
Mir gefällt der Vergleich zwischen Uber und herkömmlichen Taxis im Kontext des Gesundheitswesens. Jahrzehntelang waren wir auf Taxis angewiesen. Die Taxifahrer:innen wurden selbstgefällig, da sie die volle Kontrolle über den Personentransport hatten. Ergebnis: Die Qualität der Dienstleistungen nahm ab. Über verschiedene Instrumente – Gewerkschaften, Monopole usw. – haben sie versucht, uns an ihre Plattform zu binden. Dann kamen Uber und Lyft und mit ihnen gewaltige Veränderungen in der Branche durch digitale Technologien sowie durch den Fokus auf Komfort und Service. Da gibt es viele Ähnlichkeiten zum Gesundheitswesen. Die Anbieter:innen halten ihren Marktanteil bzw. ihre Marktposition für selbstverständlich. Wir schenken dem Kundenservice bzw. der Patientenerfahrung keine Aufmerksamkeit. Da könnten wir eines Besseren belehrt werden, genauso wie die Taxiunternehmen.

Die Tools zum Einrichten eines One-to-many-Versorgungsmodells existieren bereits: Wearables, elektronische Patientenakten, Gesundheits-Apps, Telemedizin, Roboter, KI usw. All das sind aber eher separate Lösungen, teils neue digitale Inseln, die noch keine durchgehende, konsequent vernetzte Versorgung ermöglichen. Wie kommen wir zu einem für die Patient:innen bestmöglichen Ökosystem?
Diese Frage ist enorm wichtig. Daten, die von Telefonen, Wearables usw. erzeugt werden, sind bisher nicht standardisiert. Das ist ein erster, wichtiger Schritt. Der zweite Schritt sind KI-Algorithmen, die diese Daten verarbeiten und Prognosen zu Gesundheitsrisiken erstellen. Damit kann in einer vernetzten Versorgung gearbeitet werden. Im dritten Schritt gilt es dann herauszufinden, was uns als Individuen motiviert und dieses Wissen für die Gesundheit einzusetzen.

Es gibt Unterschiede zwischen der Digitalisierung im Gesundheitswesen und in anderen Branchen. Es geht um Empathie, Emotionen, Kommunikation und Unterstützung, gleich ob es sich um Patient:innen mit chronischen Krankheiten oder Senior:innen handelt. Glauben Sie, dass Telemedizin und Automatisierung das besser leisten können als Arzttermine vor Ort?
Ja, aber mit Vorbehalten. Wenn die benötigte Versorgung komplex ist und eine ausgeprägte emotionale Intelligenz erfordert, ist persönlicher Kontakt wahrscheinlich besser. Handelt es sich hingegen um einen Routinebesuch, um einfache Entscheidungen und hat Patient oder Patientin eine langjährige Vertrauensbeziehung zum jeweiligen Dienstleister, dann ist der Digital-first-Ansatz vorzuziehen.
 
Welche Projekte haben Sie in den letzten Monaten beschäftigt?
Ich habe mit meinen Kolleg:innen von der American Telemedicine Association zusammengearbeitet, damit die Fortschritte, die wir bei der Einführung der Telemedizin in der ersten Phase der Pandemie gemacht haben, nicht verloren gehen. Es geht vor allem um Politik, Interessenvertretung und die Aufklärung aller Beteiligten hier in den USA.

Wie würde Ihre Handlungempfehlung lauten?
Wenn Sie ein Dienstleister sind, lassen Sie sich auf neue Versorgungskonzepte für Ihre Patient:innen ein, die digitale Tools beinhalten. Als Anbieter:in konzentrieren Sie sich auf Innovationen, um das One-to-many-Versorgungsmodell erfolgreich einzuführen. Als Patient:in fordern Sie Ihre Rechte ein. Verlangen Sie Zugänglichkeit, Qualität, Komfort und eine durchgehende Gesundheitsversorgung über mehrere Kanäle.

 

Interview:  Artur Olesch
ist freier Journalist/Korrespondent und berichtet aus Berlin über digitale Gesundheit, u.a. für das Polish Healthcare Journal und für die HIMSS. Er ist Gründer von aboutDigitalHealth.com und hat mehr als 500 Artikel und Berichte über die digitale Transformation im Gesundheitswesen verfasst.

Kontakt: artur.olesch(at)gmail.com