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Von Datenräumen und Datenträumen

Der European Health Data Space (EHDS) ist noch Zukunftsmusik, aber immerhin startet jetzt ein europäisches Pilotprojekt, das den neuen Datenraum schon mal in alle Richtungen ausloten soll. Nationale Gesetzesinitiativen und vor allem viele ehrgeizige Datenräume von nichtstaatlichen Akteur:innen machen die Gesundheitsdatenlandschaft zusätzlich spannend. Ein Panorama.

Bild: © garrykillian – stock.adobe.com, 144388219, Stand.-Liz.

Wenn sie über den EHDS redet, dann ist Prof. Dr. Bettina Borisch vom in der Schweiz ansässigen Institute of Global Health die Begeisterung förmlich anzuhören: „Der Europäische Raum für Gesundheitsdaten ist ein grundlegender Umbruch. Er stellt die Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt und ermöglicht ihnen eine vollständige Kontrolle ihrer Daten.“ Kurze Erinnerung: Der EHDS ist einer von mehreren branchenspezifischen Datenräumen, die die EU-Kommission als Teil ihrer Datenstrategie in der EU aufbauen möchte. Am 3. Mai 2022 war der Entwurf für die EHDS-Verordnung vorgelegt worden – und hatte für viel Aufregung und Zustimmung gesorgt.


Das epSOS-Erbe
Der EHDS ist zweigeteilt. Zum einen – darauf bezog sich Borisch, die bei einem Symposium der Konferenzreihe „Public Health and Data Sharing“ von Springer Medizin und Roche referierte – sollen Bürger:innen und Heilberufler:innen besseren Zugriff auf die eigenen bzw. auf die für die jeweilige Versorgungssituation relevanten Gesundheitsdaten bekommen. Das Stichwort für diesen EHDS-Part lautet MyHealth@EU.


Bei MyHealth@EU handelt es sich letztlich um die Fortsetzung der jahrelangen Bemühungen der EU-Kommission um einen grenzüberschreitenden Austausch von Gesundheitsdaten – jene Bemühungen, die in grauer europäischer E-Health-Vorzeit, im Jahr 2008, mit dem damals wohl überehrgeizigen epSOS-Projekt starteten. Es führte über (zähe) Jahre hinweg zu europaweiten Standards für einen Patientenkurzbericht und für ein elektronisches Rezept, und die epSOS-Grundstruktur ist selbst heute in den EHDS-Plänen noch problemlos erkennbar.


Der zweite und für viele spannendere Part des EHDS: Er soll die klinische Forschung und dabei insbeson-dere auch die Forschung zu Public-Health-bezogenen Fragestellungen erleichtern, und zwar über innereuropäische Grenzen hinweg. Die Pandemie lässt grüßen, und HealthData@EU ist hier das relevante Stichwort. Für die Europäische Kommission gab Licinio Kustra Mano von der Generaldirektion Gesundheit (DG SANTE) einen Überblick über den aktuellen Stand insbesondere der HealthData@EU-Hälfte des EHDS. Die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten sollen sogenannte Health Data Access Bodies aufbauen, die dann europaweit durch ein Portal und zentrale Services verknüpft werden. So soll es möglich werden, standardisierte Daten für Forschungsprojekte in unterschiedlichen oder auch allen angebundenen Ländern abzufragen.


Pilotprojekt für grenzüberschreitende Forschung ist unterwegs
Die Infrastruktur, wir sind in der EU, ist strikt dezentral vorgesehen, und die Datenschutzanforderungen orientieren sich selbstverständlich an der Datenschutz-Grundverordnung, der DSGVO, sowie der europäischen Cybersicherheits-Gesetzgebung. Daten sollen, je nach Fragestellung, pseudonymisiert oder anonymisiert werden. Es gebe keine Möglichkeit, Einzelne zu identifizieren, und personen­bezogene Daten dürften auch nicht heruntergeladen werden, betonte Kustra Mano.


Wie bei der EU-Gesetzgebung üblich, muss die EHDS-Verordnung noch durch einige Instanzen gehen. Aktuell liegt der Entwurf beim Europäischen Rat. Danach folgt dann das Europäische Parlament mit mehreren Lesungen. Und erst danach kann die dann sicherlich in einigen Punkten veränderte Verordnung in Kraft treten. Das wird nicht vor 2024 der Fall sein, und wie ebenfalls immer in der EU wird es dann großzügige Übergangsfristen geben. Aber die EU-Kommission will die Sache parallel zum legislativen Prozess zumindest schon einmal testen. Sie hatte im Sommer 2022 ein EHDS-Pilotprojekt ausgeschrieben und vergeben, an dem sich 16 Partner aus zehn europäischen Ländern beteiligen. Unter französischer Führung hat es im Oktober 2022 begonnen. Ziel sei es, unterschiedliche Datenplattformen in unterschiedlichen Ländern über prototypische nationale Knotenpunkte zu vernetzen, sagte Mario Jendrossek vom französischen Health Data Hub. Der Health Data Hub ist eine schon existierende Einrichtung in Frankreich, die künftig zu einem Health Data Access Body nach den Plänen der EHDS-Verordnung ausgebaut werden könnte.


Neben der reinen Datenübertragung sollen im Rahmen des Pilotprojekts auch schon erste Services getestet werden. Diese Services machen überhaupt erst die Nutzbarkeit der neuen Plattform aus, und sie sollen von der EU-Kommission im Rahmen des EHDS künftig zentral angeboten werden. Dazu gehören eine Art plattformübergreifende Suchmaschine für Metadaten sowie möglichst komfortable Anträge für Forscher:innen, die mit den vernetzten Daten arbeiten wollen. Klinisch werde sich das Pilotprojekt auf fünf Anwendungsszenarien konzentrieren, so Jendrossek. Darunter sind prädiktive Modelle für kardiovaskuläre Ereignisse, die Identifikation von Risikofaktoren für Thrombosen im COVID-19-Kontext sowie ein personalisiertes Risiko-Assessment für kolorektale Karzinome.


Nationale Datenräume als Fundament

Das Ganze erinnert natürlich nicht zufällig an nationale Bemühungen, jeweils eigene Datenräume zu schaffen. Frankreich wurde schon erwähnt, in Deutschland ist es die mit bisher über 300 Millionen Euro vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Medizininformatik-Initiative, die Portale und Zugangsknoten auf Ebene der in diesem Fall Universitätsklinika implementiert. Damit die Daten gemeinsam auswertbar sind, hat sich die MII bekanntlich auf einen Kerndatensatz geeinigt, der erweitert wird, außerdem auf einen Broad Consent, also eine breite Einverständniserklärung zur Datennutzung für einwilligungsbasierte Forschung über einen unmittelbaren Projektkontext hinaus.


Dass einige der Funktionalitäten, die im Rahmen der MII entwickelt wurden, unmittelbar nützlich für die Umsetzung des EHDS in Deutschland sind, liegt auf der Hand. Trotzdem sei die Einbindung der MII-Architektur in einen europäischen Kontext kein Selbstläufer, sagte Sebastian C. Semler von der TMF e. V. Insbesondere die Bündelung der Daten und die Harmonisierung der Metadaten seien herausfordernd: „Wir schauen mit Interesse auf Finnland, wo die Gesundheits- und Sozialdatenbehörde Findata eine Reihe von Datenpools über ein Zugangsportal zusammenschließt, und glauben, dass wir uns dort einiges abschauen können.“


Auch andere Datenräume können inspirieren
Als Datenraumarchitekt:in nach Finnland zu blicken, ist immer eine gute Idee. Finnland ist aber nicht der einzige Ort, der in Sachen Datenraum als Inspirationsquelle dienen kann. Jenseits der im engeren Sinne politischen Datenräume gibt es mittlerweile eine ganze Reihe an Datenraumprojekten unterschiedlicher Initiatoren, die zeigen, was machbar ist bzw. Denkanstöße dahingehend geben, welche Anforderungen Datenräume erfüllen sollten, damit sie auch das liefern, was sich die Initiator:innen davon versprechen.

 

Ein Beispiel ist das dänische Projekt OSCAR. Ziel von OSCAR ist es, einen „One-Stop-Shop“ für die klinische Forschung zu errichten. In Dänemark ist das einfacher als anderswo, weil es eine eindeutige Identifizierungsnummer für alle Bürger:innen gibt, die sich mit klinischen wie nichtklinischen Datenquellen verknüpfen lässt. In Dänemark werden auch Kooperationsprojekte öffentlicher Einrichtungen mit privaten Unternehmen weniger argwöhnisch beäugt als anderswo. OSCAR ist ein solches Kooperationsprojekt. Partner sind unter anderem diverse Pharmaunternehmen. Seitens des Gesundheitswesens ist die dänische Health Data Agency dabei, die in Dänemark mitverantwortlich ist für 140 klinische Register und damit einen wichtigen Teil der Daten, die im Rahmen von OSCAR zugänglich gemacht werden sollen. Auch die oberste dänische Statistikbehörde ist ins Projekt eingebunden.


OSCAR wird unter anderem dadurch inspirierend, dass es eine neue Pseudonymisierungs-Technologie nutzt, bei der Daten „nahezu“ anonymisiert werden, sodass eine sehr weitgehende, aber gleichzeitig sehr datensichere Analytik möglich wird. Diese Analysen – auch deswegen interessiert sich das dänische Gesundheitswesen stark für das Projekt – sollen unter anderem dazu verwendet werden, Effektivität und Effizienz von Therapien in der realen Versorgungswirklichkeit zu evaluieren, als Grundlage für Pay-for-Performance-Modelle in der Arzneimittelversorgung. Über das OSCAR-Portal sollen außerdem Versorgungsforschungsprojekte abgewickelt werden, die bessere Prävalenzdaten liefern oder die sich damit beschäftigen, wie sich Patienten bei unterschiedlichen Indikationen durchs Gesundheitswesen bewegen und wovon die Patientenentscheidungen abhängen.


Ein aktuelles Pilotprojekt ist beispielsweise das Copenhagen Master Observatory Trial (C-MOT), das bei Bronchialkarzinom und Brustkrebs analysiert, wie Patient:innen bei unterschiedlichen Therapien in der realen Versorgung abschneiden. Dazu werden dreißig Monate lang von allen Studienteilnehmern Patient-Reported-Outcomes (PRO) digital erhoben und an die Plattform übermittelt. Alle Tumore sind zudem komplett genomsequenziert. Die Stärke von OSCAR liege vor allem darin, dass forschende Abfragen für komplette Populationen innerhalb von Minuten erfolgen könnten, sagte Troels Mortensen, CEO von DataFair Denmark, das bei OSCAR koordinierende Aufgaben übernimmt.


Datenräume für bessere klinische Studien
OSCAR will in einem weiteren Fokusthema auch noch klären, inwieweit der umfangreiche Datenpool genutzt werden kann, um artifizielle Kontrollgruppen für klinische Studien zu bilden. Gelänge das, und würde es von den Zulassungsbehörden akzeptiert, dann würde Dänemark voraussichtlich zu einem ziemlich attraktiven Standort für klinische Studien.


Klinische Studien sind ohnehin ein spannendes Thema für digitale Datenräume. Ein Beispiel dafür ist der Datenraum von Vivli – Center for Global Clinical Research Data in den USA. Vivli ist eine Non-Profit-Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Daten klinischer Studien zugänglich zu machen. Dazu wurde eine digitale Plattform aufgebaut, bei der Forscher:innen Daten aus klinischen Studien abfragen und analysieren können. Vivli hat über 40 Mitglieder, darunter erneut mehrere pharmazeutische Unternehmen. Bisher werden die Daten von rund 7000 klinischen Studien zur Verfügung gestellt.


Wer mit diesen Daten arbeiten will, muss sich verpflichten, die Ergebnisse der Analysen anderen zugänglich zu machen. Forschungsanfragen müssen zudem jeweils individuell von denen, die die Daten zur Verfügung stellen, genehmigt werden. Zu den Stärken von Vivli gehört eine Fähigkeit aller medizinischen Datenräume, nämlich die Verknüpfung unterschiedlicher Datenquellen. So können beispielsweise unterschiedliche Pharmaunternehmen zusammenarbeiten und ihre Studiendaten mit denen anderer Organisationen verknüpfen.


Datenräume für die Krebsversorgung
Die Brücke zwischen Forschung und Versorgung schlagen möchte das Deutsche Humangenom-Phenomarchiv (GHGA). Es ist Teil der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) und fokussiert auf genomische Daten aus Medizin und Forschung. Neun Universitäten und sechs Helmholtz-Zentren sind derzeit beteiligt. Das GHGA fokussiert zum einen auf die Krebsforschung, zum anderen auf Seltene Erkrankungen. Es baut auf dem European Genome-Phenome Archive (EGA) auf, das bisher zentral am ­Eu­ropäischen Molekularbiologie-Labor (EMBL) koordiniert wurde und  jetzt in eine föderale, europaweite Struktur überführt werden soll. Die erinnert nicht zufällig an die Pläne der EU-Kommission für den EHDS: Eine Vielzahl nationaler Knoten soll genomische Informationen für grenzüberschreitende Abfragen zugänglich machen. Ziel sei, am Ende einen Datensatz mit über einer Million Genom-Phenom-Daten EU-weit der Forschung und der Versorgung zur Verfügung stellen zu können, sagte Prof. Dr. Oliver Stegle vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und EMBL.


Um Krebs geht es auch bei der WAYFIND-R-Initiative, einem globalen Tumorregister, das bis 2026 Datensätze von insgesamt 15 000 Patient:innen zusammenführen soll, die an (soliden) Tumoren leiden und bei denen eine vollumfängliche molekulare Testung vorliegt. Ziel ist es, ähnlich wie im dänischen OSCAR-Projekt, die Behandlungspfade von der Erstdia­gnose bis zum Behandlungsergebnis nachzuzeichnen, die Daten für Forscher:innen zur Verfügung zu stellen und über ein Dashboard für Kliniker:innen zu visualisieren.


Blickwinkel der Patient:innen fehlt oft noch

Unstrittig ist, dass der Blick auf Datenräume bisher vor allem die Forschungs- und teilweise die Industrieperspektive beinhaltet. Wer noch etwas zu kurz kommt, sind die Patient:innen. Zwar sieht, Beispiel Deutschland, das Datenportal der Medizininformatik-Initiative Transparenzmechanismen vor. Aber so richtig konkret ist das bei diesem Datenraum noch genauso wenig wie bei anderen. Man wird den Eindruck nicht los, dass Patient:innen eher als etwas störend empfunden werden, sofern sie mehr wollen, als nur möglichst früh eine möglichst breite Einwilligung zu unterzeichnen. „Wie weit lässt sich die Forschung mit Gesundheitsdaten innerhalb des europäischen Regulationsrahmens maximal ausdehnen, ohne Patient:innen ständig einbinden zu müssen?“ – Das scheint die Frage zu sein, die viele Datenraumarchitekt:innen eher beschäftigt als die Frage, wie sich eine Einbindung von Patient:innen konkret umsetzen lässt.


Birgit Bauer, Projektmanagerin bei Data Saves Lives, sieht jedenfalls noch relevante Lücken beim Thema Patienteneinbindung in die Gesundheitsdatenraumarbeiten: „Wir würden gerne mehr mitreden. Wir wollen verstehen, warum welche Entscheidungen wie getroffen werden. Dazu braucht es ein Mitbestimmungsrecht und Einbindung in die entsprechenden Gremien.“ Prinzipiell begrüßt Bauer sowohl den EHDS als auch das für Deutschland geplante Gesundheitsdatennutzungsgesetz. Es fehle zu beidem aber an Kommunikation in Richtung breite Öffentlichkeit: „Wir brauchen mehr Informationen, damit die Menschen verstehen, warum das wichtig ist und warum das grundsätzlich nichts Böses ist“, so Bauer.