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» Wer Medizin studiert, hört nichts von Design Thinking «

Fabrice Pöhlmann ist CEO von HelloDesign. Das Unternehmen wurde beim German Design Award 2025 in der Kategorie „Excellent Communications Design“ für gleich drei medizinische Anwendungen ausgezeichnet: für die Akne-inversa-App Akinsa, die Eltern-Gesundheits-App MyPhi und die im betrieblichen Gesundheitsmanagement angesiedelte Webanwendung ofelos.

Fabrice Pöhlmann ist Behavioural Designer, UX-Experte und Dozent für Design Thinking. Er arbeitet mit Start-ups und globalen Unternehmen zusammen, um Marken, Websites und digitale Produkte zu gestalten. Seit 2019 ist er CEO von HelloDesign, einem Beratungsunternehmen für digitales Produktdesign. Foto: © HelloDesign

Ihr habt bei den German Design Awards drei Preise bekommen für Anwendungen, die im medizinischen Kontext angesiedelt sind. Welchen Stellenwert hat das Thema Gesundheit bei Euch?
Als breit aufgestellte Designagentur begleiten wir digitale Produktentwicklungen aller Art, unabhängig von der Branche. Wir arbeiten auch mit Unternehmen jeglicher Größe zusammen, vom Start-up bis zum Großkonzern. Relativ früh nach Gründung unserer Agentur haben wir eine Ausschreibung gewonnen, in der es um Gesundheitskompetenz von Jugendlichen ging. Da haben wir damals ein Game gebaut, und so wurde Gesundheit zu einem der Themen, auf die wir uns fokussiert haben. Irgendwann kam die Anfrage für die erste digitale Gesundheits­anwendung (DiGA), dann war auf einmal Boehringer Ingelheim ein Kunde von uns. So nahm das seinen Lauf. Mittlerweile kommen im Schnitt sieben von zehn Kunden aus dem Healthcare-Bereich. Letztlich passt die Branche auch gut zu uns. Unser Purpose ist „Design for a better life“ – wir versuchen, Designmethodiken zu nutzen, um digitale Produkte zu bauen, die Menschen glücklicher, produktiver und gesünder machen.

Wie läuft das konkret ab? Da kommt ein Start-up oder ein größeres Unternehmen zu Euch, die wollen eine App entwickeln, und dann lassen sie sich von Euch in Bezug auf Design, Usability etc. beraten?

Ganz genau. Jemand, der eine DiGA oder eine andere medizinische Anwendung entwickeln möchte, hat nicht zwangsläufig Ahnung von digitaler Produktentwicklung. Das ist auch völlig normal. Der Auftraggeber bringt die Fachkompetenz mit, und wir wissen, wie man Applika-tionen baut, die Spaß machen und funktionieren.

Gibt es Unterschiede in der Herangehensweise zwischen Gesundheits-Apps einerseits und Apps in anderen Branchen, etwa Fintech oder Transport? Was genau sind die branchenspezifischen Herausforderungen?

Wir können im Gesundheitswesen nicht ganz so agil, nicht ganz so iterativ arbeiten wie in anderen Bereichen. In vielen Branchen werden zu irgendeinem Zeitpunkt Beta-Versionen gelauncht, weil man daraus enorm viel lernen kann und weil letztlich nichts kaputtgehen kann, wenn mal was nicht auf Anhieb funktioniert. Das ist ein bisschen anders, wenn es zum Beispiel um Handlungsempfehlungen für eine Patientin oder einen Patienten geht, das sollte dann schon zuverlässig funktionieren. Das macht es etwas schwieriger. Wir können als UX-Designer oder als Digitalberater viele Sachen antizipieren, wir haben Erfahrungswerte, auf die wir zurückgreifen können. Aber reales Feedback von Nutzerinnen und Nutzern ist am Ende das, was darüber entscheidet, ob eine App gut oder schlecht ist. Konkret bedeutet das, dass wir bei gesundheitsbezogenen Apps sehr viel mehr Prototype-Testing machen müssen. Das ist schon ein signifikanter Unterschied zu klassischen Consumer-Produkten.

Vielleicht können wir das auf ein konkretes Beispiel runterbrechen. Eine der Anwendungen, für die Ihr ausgezeichnet wurdet, ist die Akinsa-App, eine App für Menschen mit Akne inversa. Ein digitales Tagebuch im weitesten Sinne. Wie lief Eure Beratung da konkret ab? Ihr redet von Co-Kreation. Was habe ich mir darunter vorzustellen?
Co-Kreation ist im Prinzip nichts anderes als das strukturierte Moderieren von Workshops. Ich als Designer habe nicht zwangsläufig große Ahnung vom jeweiligen Inhalt der App, letztlich sind die Themen immer neu für uns. Wir kommen deswegen in einem moderierten Rahmen mit den Kunden zusammen, meistens remote, und skizzieren auf einem digitalen Whiteboard, wie die Applikation aussehen kann. Das ist im Grunde eine Art Ping-Pong-Spiel. Bei Akinsa sagte das Team des Auftraggebers, dass ein Tagebuch gebraucht wird. Wir haben dann Vorschläge gemacht. Dann mussten die Ärztin bzw. der Arzt eingebunden werden, es mussten Berichte exportiert werden können und so weiter. Für all solche Funktionen haben wir Module, die wir einsetzen und am Bedarf des Kunden orientiert modifizieren können. Das ist letztlich der co-kreative Ansatz. Es ist also nicht so, dass man sich als Medizinerin oder Mediziner hinsetzt und versucht, irgendwie ein Anforderungsprofil für eine Applikation zu schreiben. Davon würde ich jedem stark abraten, das ist zum Scheitern verurteilt. Da gibt es dann ein 48 Seiten langes Dokument, das den Entwicklern zugeworfen wird, als ob damit schon alles gesagt wäre. So funktioniert das nicht. Eine iterative Herangehensweise bringt erwiesenermaßen einfach bessere Applikationen hervor.

Wie viele Teilnehmende hat so ein Workshop?

Das hängt sehr stark davon ab, was die Problemstellung ist und wer der Kunde ist. Bei einem Start-up ist es oft wirklich nur das Gründerteam. Wenn es ein größerer Konzern ist, wird das Ganze deutlich politischer. Da müssen dann oft auch erst mal Stakeholder im eigenen Unternehmen abgeholt werden. Geht es um eine Zieldefinition, sitzen gerne mal zehn Leute in so einem Workshop. Geht es darum, konkret zu entscheiden, wie ein Feature aussieht, dann sind es eher drei oder vier.

Die drei Anwendungen, für die Ihr mit dem German Design Award ausgezeichnet wurdet, sind MyPhi, ofelos und Akinsa. MyPhi und Akinsa sind Apps, ofelos ist eine Webanwendung. Wie viele Workshops habt Ihr da gemacht, bis Ihr ein Produkt hattet, das marktreif war?

Das kommt ein bisschen darauf an. Bei ofelos ging es eher um das Thema Brand, da haben wir die Markenkommunikation und die Webseite neu gestaltet. Das ist ein bisschen was anderes als eine komplette digitale Produktentwicklung. Für ofelos haben wir einen sogenannten Brand Sprint gemacht. Das sind vier aufeinanderfolgende Workshop-Tage, während derer die Marke quasi entsteht. Die ist danach nicht zwangsläufig fertig, aber zumindest die kooperative Leistung ist im Wesentlichen durch. Bei Akinsa war das völlig anders, da haben wir bestimmt vierzig, fünfzig kleine Workshops gemacht, gelegentlich auch mal einen größeren. Solche Workshops sind dann sehr themenfokussiert und dauern mitunter auch mal nur eine Stunde. Vierzig, fünfzig Workshops hört sich viel an. Aber letztlich ist die Zeit, die der Kunde aufwenden muss, dieselbe wie beim Verfassen eines kompletten Ausschreibungsdokuments. Nur die Qualität, die am Ende rauskommt, ist beim co-kreativen Vorgehen besser. 

Bei den German Design Awards ging es ja primär um Usability und Spaß an der Nutzung. Was sind denn so die Features, die bei gesundheitsbezogenen Anwendungen auf Usability und Spaß an der Nutzung einzahlen?

Auch das ist etwas schwierig, pauschal zu beantworten. Es gibt natürlich bestimmte Sachen, die man immer wieder verwenden kann. Aber was am Ende funktioniert und was nicht, hängt schon stark vom jeweiligen Thema ab. Wir können leider nicht sozusagen per White Label irgendein Feature einbauen und am Ende kommt mit 100 Prozent Sicherheit eine bestimmte Nutzererfahrung raus. So einfach funktioniert das nicht. Wir arbeiten eher bestimmte Aspekte ab. Ein Beispiel: UX Writing. Da machen wir uns ganz explizit Gedanken darüber, wie die jeweiligen Patientinnen und Patienten angesprochen werden. Das ist sehr persönlich, die Ansprache muss zur Zielperson passen. 


Ein anderes Thema sind bestimmte Usability-Prinzipien, bestimmte Standards, die die Nutzerinnen und Nutzer von klassischen Consumer-Produkten kennen und die sie deswegen implizit auch von anderen Anwendungen erwarten. Das zu berücksichtigen, ist auch extrem wichtig. Viele, die eine DiGA entwickeln, kommen zum Beispiel mit unendlich langen Formularen an. Da müssen wir dann ein bisschen gegensteuern, oder zumindest die Formulare so gestalten, dass sie funktionieren, obwohl sie lang sind. Über Gamification haben wir jetzt noch gar nicht gesprochen. Das ist das, was vielen beim Stichwort Nutzer-Engagement als Erstes einfällt. Aber das ist eigentlich eher die Cherry-on-the-top. Wenn ich ein ewig langes Formular habe, das langsam lädt und bei dem die Typo viel zu klein ist, dann müssen wir erst mal dieses Thema bearbeiten, bevor wir an Gamification überhaupt denken können.

Nehmen wir noch mal die Akinsa-App, um das zu konkretisieren. Digitale Tagebuch-Apps sind ein Riesenthema, und das wird auch eher noch größer werden. Was habt Ihr bei Akinsa konkret gemacht, um das zu erreichen, was Du gerade geschildert hast?
Das fängt damit an, dass wir versuchen, die tägliche Dokumentation mit so wenigen Klicks wie möglich umzusetzen. Erst mühsam drei aktive Klicks einfordern und vom Nutzer dann auch noch verlangen, sich durch ein langes Formular zu scrollen, das funktioniert nicht. Es braucht eine Notification, bei der ich auf nette Art an die Dokumentation erinnert werde. Und dann muss ich mit einem Klick im Tagebuch landen, der Klick muss quasi direkt am Daumen sein. Am Ende sollte das so funktionieren wie bei gut gemachten E-Commerce-Apps. Ich muss das zwischendurch erledigen können, auch im Stehen in der U-Bahn.

Gamification hattest Du angesprochen. Welchen Stellenwert hat das, und was sind da die Fallstricke?

Wie schon gesagt, Gamification ist so ein bisschen die Kür, die dann kommt, wenn die Pflicht erledigt ist. Es gibt das sogenannte Hooked-Modell. Da geht es darum, einen Gewohnheits-Loop zu entwickeln, um die Nutzerin oder den Nutzer dazu zu bringen, die App wirklich jeden Tag zu nutzen. Dazu braucht es zum einen Trigger, die daran erinnern, die Applikation zu nutzen. Rückkopplungen sind auch wichtig. Hier gibt es unterschiedliche Belohnungs-Features, bei denen man für eine erledigte Dokumentation zum Beispiel Punkte oder Coins sammeln kann und gleichzeitig motiviert wird, weitere Invests – also in diesem Fall Dokumentationen – zu tätigen. 


Zum Beispiel: Wer drei Tage hintereinander dokumentiert hat, kriegt einen Streak, wie man das von Sprachlern-Apps oder Online-Spielen her kennt. Diese eher simple Art der Gamification hat einen sehr hohen Stellenwert. Was die Fallstricke angeht: Es muss natürlich zur Anwendung, zum Thema passen. Wenn ich eine Krebs-DiGA entwickle, dann muss ich mit Reward-Systemen und unterhaltenden Komponenten etwas anders umgehen als zum Beispiel bei einem Tagebuch für eine Hauterkrankung. Aber grundsätzlich gilt schon auch bei gesundheitsbezogenen Anwendungen: Es darf Spaß machen. Es geht nicht darum, dass eine Anwendung umso weniger Spaß machen darf, je ernster die Erkrankung ist.

Ihr unterstützt sowohl bei der Entwicklung von DiGA als auch bei der Entwicklung von Anwendungen, die keine DiGA sind. Wo sind da die Unterschiede, was die Design- und Usability-Anforderungen angeht?
Nehmen wir MyPhi und Akinsa als Beispiele. Akinsa ist eine App, die sich bereits auf den Weg in Richtung DiGA macht. MyPhi wiederum ist eine Anwendung, die es Eltern erlaubt, die Gesundheit ihrer Kinder zu managen. Das ist keine DiGA. Wenn wir mal nicht über die für DiGA nötigen Studien reden, sondern rein im Bereich Design und Usability bleiben, dann haben DiGA zum Beispiel einen längeren Onboarding-Prozess, den wir abbilden müssen. Das hat auch in Sachen Usability gewisse Herausforderungen. Bei einer App wie MyPhi ist das unkomplizierter. Wir haben bei Wellness-Apps generell mehr Freiheiten, das eine oder andere auszuprobieren. Einfach weil es unkomplizierter ist, Sachen auch wieder zu ändern. Wir können mehr experimentieren, mehr iterieren.

Inwieweit kann man Usability messen?
Im Grunde ganz gut. Wenn wir davon ausgehen, dass wir eine Applikation haben, bei der die Nutzerin oder der Nutzer potenziell gesünder wird, umso öfter sie oder er die Applikation benutzt, dann ist das die KPI, auf die wir optimieren – gewissermaßen die Nutzungsdauer der Applikation. Bei Akinsa geht es konkret darum, wie oft die Dokumentationen ausgefüllt werden, da ist das unsere wichtigste KPI. Und wenn beispielsweise bei einer Anwendung abgeschlossene physiotherapeutische Übungen der entscheidende Faktor wären, dann wäre das unsere KPI. Solche Dinge lassen sich gut messen, und damit können wir dann auch ziemlich gut einschätzen, welche Veränderung des User Interfaces am Ende wirklich etwas gebracht hat oder eben nicht.

Abschlussfrage: Das Gesundheitswesen insgesamt gilt als eine Branche, in der die digitale Transformation etwas langsamer vonstattengeht als anderswo. Liegt das auch daran, dass Usability-Aspekte noch nicht so präsent sind wie in anderen Branchen? Oder kann man das so pauschal nicht sagen?
Ich glaube schon, dass es ein Teil der Wahrheit ist. Die Awareness für Usability und die User-Experience-Thematik ist oft nicht ausreichend vorhanden. Woher soll das auch kommen? Wer Medizin studiert, der hört nichts von Design Thinking, Human Centered Design, User Experience, Usability und so weiter. Warum auch? Was noch dazukommt: Die ersten medizinischen IT-Systeme, die eine Ärztin oder ein Arzt zu Gesicht bekommen, sind oft Krankenhausinformationssysteme. Und wenn ich das dann gewohnt bin, akzeptiere ich irgendwann, dass medizinische IT-Anwendungen aussehen wie Windows 98. Das ist schon ein Problem. Auch da ist noch unendlich viel zu holen in Sachen Design und Usability.  




Das Interview führte Philipp Grätzel von Grätz, Chefredakteur E-HEALTH-COM.