Der KIS-Markt im deutschsprachigen Raum war lange recht statisch bzw. er konsolidierte jahrelang in mehreren Wellen. Warum ist oder war die Zeit reif für ein neues KIS im Markt?
Aktuell sorgt die Abkündigung von IS-H für erhebliche Bewegung im Markt. Unsere Entscheidung zum Markteintritt fiel allerdings bereits vor dieser Mitteilung. Nach wie vor sind viele Systeme im Einsatz, deren Wurzeln in den 90er-Jahren liegen – was man ihnen auch ansieht. Diese Lösungen sind oft stark auf die Abrechnung fokussiert. Unser Ansatz ist ein anderer: In einer zunehmend digital arbeitenden Welt reicht ein primär abrechnungsgetriebenes System nicht mehr aus. Informationen müssen effizienter erfasst, besser strukturiert und umfassend verarbeitbar sein. Vollständige Prozessdigitalisierung und strukturierte Datenerfassung waren die Grundgedanken.
Was zeichnet die Architektur Ihres KIS aus?
Wir haben unser System von Beginn an als Plattform konzipiert – mit dem Ziel, nicht nur den Funktionsumfang eines klassischen KIS abzudecken, sondern darüber hinauszugehen. Technisch setzen wir dabei auf eine Microservice-Architektur mit derzeit rund 30 universell einsetzbaren Services, die teils relativ abstrakten Zwecken dienen. Ein Beispiel ist unser Patient-Service: Er verwaltet ausschließlich Patienten-Identitäten und -informationen und ist unabhängig von klinischen Modulen wie dem für die Station oder den OP. Diese Modularität erlaubt es, Services flexibel in Prozesse zu integrieren.
Warum ist diese Microservice-Architektur attraktiv?
Microservices bieten zahlreiche Vorteile. Zum einen ermöglichen sie ein modernes Cloud-Deployment und eine redundante Installation unseres KIS. Wir können einzelne Services bedarfsgerecht skalieren, ohne das gesamte System hochskalieren zu müssen. So erreichen wir zum Beispiel, dass 99,9 Prozent aller Anfragen in unter 200 Millisekunden beantwortet werden. Ein weiterer Pluspunkt liegt im Datenmodell: Jeder Service verfügt über eine eigene Datenbank, was Überschneidungen vermeidet. Microservices verbessern ebenfalls die Wartbarkeit und erleichtern Weiterentwicklungen. Änderungen lassen sich unkompliziert umsetzen, ohne an einem großen Monolithen arbeiten zu müssen. Zudem erlaubt die Architektur eine schrittweise Installation – ein Vorteil gerade bei der Ablösung bestehender Systeme, da Kliniken nicht alles auf einmal umstellen müssen.
Es gibt ja in der KIS-Welt zwei unterschiedliche Philosophien, holistische Systeme und Best-of-Breed-Installationslandschaften, wo dann häufig eine Interoperabilitätsplattform bzw. ein Clinical Data Repository darunterliegt. Wo sehen Sie sich?
Ich formuliere es mal so: Wir bringen eine Interoperabilitätsplattform mit. Da wir mit vollständig offenen Schnittstellen arbeiten, sind wir komplett interoperabel. Die Kernidee ist, dass andere Systeme sich direkt andocken können – in der Regel über FHIR-Schnittstellen. Was wir nicht sind, ist ein Kommunikationsserver. Wir sind eine Datenerfassungs- und Datenspeicherplattform.
Wie sieht denn Stand jetzt eine typische Installationslandschaft bei Ihnen aus? Sind das einzelne Module neben einem existierenden KIS oder auch schon Vollinstallationen?
Beides kommt vor: einzelne Module neben einem bestehenden KIS oder vollständige Installationen. Häufig beginnen wir mit Modulen, etwa in der Behandlungsdokumentation, und erweitern diese schrittweise. So umschließen wir das bestehende KIS quasi mit unseren Services, um es in einem zweiten Schritt komplett abzulösen. Das kann schnell gehen, aber auch mehr Zeit in Anspruch nehmen – je nach Strategie des Hauses. Besonders bei IS-H/i.s.h.med-Ablösungen schätzen Maximalversorger diese Vorgehensweise, da sie nicht das gesamte System auf einmal mit hohem Risiko umstellen müssen.
Wie gehen Sie mit der Abrechnungsseite von IS-H / i.s.h.med um?
Im Moment umschließen wir die Abrechnung häufig im ersten Schritt. Wir übertragen die Abrechnungsinformationen nach IS-H, und IS-H führt die Abrechnung durch. Im zweiten Schritt lösen wir IS-H vollständig ab und Kunden nutzen unsere eigene Abrechnung. Alternativ binden wir auch andere Systeme an – ohne zusätzliche Kosten. Für die Kommunikation nach außen gibt es einen eigenen Microservice, den sogenannten Gateway-Service. Er ist der einzige Service, der mit externen Systemen kommuniziert und damit quasi unser interner Kommunikationsserver, der dann bei Bedarf auch nach HL7 v2 übersetzt.
Sie kommen historisch aus der KI-Forschung und haben von dort eine gewisse Prägung mitgebracht, insbesondere einen Fokus auf strukturierte und zugängliche Daten. Was heißt das konkret? Haben Sie einfach mehr strukturierte Datenfelder als andere KIS?
Strukturierte Daten sind tatsächlich zu kurz gedacht. Wir haben vielmehr auf strukturierte und semantisch annotierte Daten gesetzt. Wir arbeiten mit über 300 sogenannten Blöcken – annotierten Auto-Complete-Datensätzen, die mit SNOMED CT und weiteren Ontologien verknüpft sind. Mit diesen Blöcken geben wir einen semantischen Standard. Kliniken können flexibel entscheiden, wie intensiv sie die Blöcke nutzen möchten, und im Hintergrund bleibt der zugrundeliegende Daten-Layer konsistent. So erreichen wir eine Datenharmonisierung über die verschiedenen Fachdisziplinen, klinischen Prozesse und Einrichtungen hinweg.
Kooperieren Sie da mit bestimmten Terminologie-Servern?
Nein, wir haben im Wesentlichen unsere eigene Terminologie entwickelt, weil wir festgestellt haben, dass es das, was wir brauchen, nicht gibt. SNOMED CT ist dabei für uns zum Beispiel eine wichtige Basis, aber nicht vollständig übersetzt und teils stark amerikanisch geprägt. In Deutschland spielen z.B. die ICD-Diagnosen eine viel größere Rolle. Deswegen haben wir gesagt, wir verknüpfen verschiedene Terminologien dort, wo es geht. Wo eine Verknüpfung nicht möglich ist, ermöglichen wir eine freie Dokumentation. Dadurch erreichen wir eine sehr performante Dokumentation, die medizinisches Personal nicht ausbremst. Unser Ziel ist es, dass die Dokumentation bei uns trotz Strukturierung und semantischer Annotierung nicht langsamer ist – eher schneller – als bei anderen Dokumentationsoptionen, und wir überprüfen dies auch regelmäßig.
Was machen Sie mit den strukturierten Daten?
Wir verfolgen zwei zentrale Ansätze: Workflow-Tools und KI-Anwendungen. Unsere Workflows sind regelbasiert. Wir haben einen Service, der bei der Dokumentation quasi mitliest und dann Eingangsbedingungen für Workflows prüft. Wenn dieser Service einen Workflow erkennt, wird das klinische Personal gezielt gefragt, ob das entsprechende Protokoll aktiviert werden soll. Der Clou daran ist, dass der Workflow-Service nicht nur einen Alert generiert, sondern Services aktiviert, die an dem entsprechenden Protokoll dranhängen. Bei einer potenziellen Sepsis wird nach Bestätigung zum Beispiel automatisch ein Laborauftrag für Blutkulturen vorbereitet und mit nur einem bestätigenden Klick versendet. Das Pflegepersonal bekommt dann zeitlich automatisch die Information, dass eine Blutentnahme ansteht. Diese Logik lässt sich auch auf administrative Abläufe oder Patientenportale übertragen, welches prä- oder post-klinische Aufgaben umfasst. Solche Automatismen funktionieren an allen Stellen des Systems.
Wie viel Zuarbeit brauchen Sie für solche Szenarien von anderen Herstellern? Muss das Krankenhaus da auf die jeweiligen externen Hersteller zugehen und eine Schrittstelle kaufen?
Das hängt vom jeweiligen Systemumfeld ab. Wir sind natürlich limitiert durch andere Systeme und durch deren Schnittstellenumfang. Das ist dann leider so. Wichtig ist uns, hier von Beginn an transparent zu kommunizieren, was mit welchen Systemen möglich ist und was nicht. Wir versprechen nichts, was wir nicht halten können.
Das Zweite, wofür Sie die strukturierten und annotierten Daten nutzen, sind KI-Anwendungen. Welche Bereiche decken Sie da ab?
Den Bereich bauen wir gerade gezielt auf und entwickeln ihn sukzessive weiter. Ein Fokus liegt auf Sprachdokumentation und Sprachsteuerung mit Tiefenintegration: Die Daten werden sofort strukturiert und annotiert eingetragen. Ärzt:innen können die strukturierten Daten dann live mitverfolgen. Wir generieren zudem jetzt schon automatisierte Arztbriefe, überwiegend regelbasiert, und arbeiten an der Ergänzung um eine Epikrise. Das Thema Diagnose-Support erhält im deutschen Markt aktuell weniger Resonanz. Daher haben wir es vorerst ausgeklammert, bis es breiter akzeptiert ist. Therapieempfehlungen finden wir dagegen spannend. Bei beiden Themen bewegen wir uns allerdings im Bereich der Medizinprodukte, wodurch die Umsetzung aufgrund der Zertifizierung einen längeren Zeithorizont hat.
Für Epikrise und Sprachanwendungen nutzen Sie LLMs?
Ja. Wir haben eine KI-Forschungsgruppe, die eigene Modelle entwickelt. Wir sind aber auch bei diesem Thema offen. Geplant ist ein Clinical App Store, über den andere KI-Anwendungen an unser System nahtlos andocken können. Wenn jemand einen besseren Algorithmus schreibt als wir, dann ist das so. Diese Philosophie der Offenheit verfolgen wir auch in anderen Bereichen. Wir wollen zum Beispiel mit externen Content-Anbietern zusammenarbeiten, die zum Beispiel Standard Operating Procedures anbieten. Die externen SOPs können dann über den Workflow-Service genauso eingespielt werden wie eigene Workflows.
Anlass unseres Gesprächs ist Ihre neue Series A-Finanzierung mit 30 Millionen Euro von Sequoia. Was sind die Entwicklungsschritte, die Sie mit diesem Kapital angehen wollen?
Das Thema KI-Entwicklung ist ein wesentlicher Aspekt. Gleichzeitig wollen wir den Funktionsumfang unserer Plattform insgesamt mit neuen Features erweitern. Daher wird sich durch die Finanzierung primär unser Personalwachstum beschleunigen. Darauf freuen wir uns.
Wie stehen Sie generell zu Beteiligungen im KIS-Bereich? Bei Ihnen ist es Venture Capital, andere KIS-Anbieter gehören mittlerweile Private-Equity-Unternehmen. Ist das zukunftsfest?
Ja, wir sehen unser VC-basiertes Modell definitiv als zukunftsfest. Wir haben mit sehr vielen Fonds gesprochen, waren in der Auswahl möglicher Partner jedoch bewusst extrem selektiv. Wir sehen uns als ein Healthcare-Betriebssystem, und dafür braucht es zwingend eine langfristige Vision und Erfahrungen. Sequoia bringt genau das und zusätzlich viele Kontakte mit, von denen wir einiges lernen können. Das passt in Summe gut zu uns. Eine Herausforderung mit VC-Modellen ist, dass Finanzierungen für grundlegende Innovationen in Deutschland gar nicht so leicht zu bekommen sind. Viele in der deutschen VC-Szene haben uns zu Beginn gesagt, dass das, was wir machen, viel zu schwer umzusetzen sei. Internationale VCs wiederum sind andere Größenordnungen gewöhnt und finden einen im Zweifel eher zu klein und wenig ambitioniert. Bei Private Equity fehlt uns im Gegensatz oft die Vision hinter dem Investment und es steht primär harte Rendite im Fokus.
Die drei Gründer haben noch die Mehrheit bei Avelios?
Ja, gemeinsam mit den beteiligten Mitarbeitenden halten wir die Mehrheit. Vor allem aber haben wir weiterhin die vollständige Entscheidungskontrolle.
Das Interview führte Philipp Grätzel von Grätz, Chefredakteur E-HEALTH-COM.