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» Wir sind die Klammer « Interview mit Stefan Höcherl, gematik

Standardisierung im Gesundheitswesen klappt nur, wenn Techies, IT-Unternehmen und Anwender:innen an einem Strang ziehen. In Deutschland wird das seit einem Jahr versucht – mit neuen Gremien, einem neuen Interoperabilitätsportal und aktuell einer allerersten Roadmap. Klappt das auch? Wir haben Stefan Höcherl, Leiter Strategie und Standards bei der gematik und als solcher Chef der dort angesiedelten Koordinierungsstelle Interoperabilität, um eine Zwischenbilanz gebeten.

Stefan Höcherl ist Leiter Strategie und Standards bei der gematik. Foto: © gematik

Wie ist Interoperabilität seit den gesetzlichen Änderungen zum Ende der Amtszeit von Jens Spahn im Institutionengefüge des deutschen Gesundheitswesens organisiert?
Interoperabilität ist weiterhin sehr aufgesplittet und sektoral. Da ist eine mio42, die Standards primär für den ambulanten Sektor formuliert. Das BfArM setzt sich mit Terminologien bzw. Semantik auseinander. Dann haben wir DIN-Normen mit Relevanz fürs Gesundheitswesen, wir haben HL7 Deutschland und HL7 International, die spezifizieren. Ein dringender Fokus liegt auf der tatsäch-
lichen Implementierung: Wir haben die Industrie, die das alles umsetzt. Wir als gematik haben eine Sowohl-als-auch-Funktion: Wir spezifizieren, sind aber auch eine Instanz, die Standards verpflichtend macht. Was fehlte, war eine Klammer, die die Akteure und Perspektiven zusammenbringen konnte.

Können die neuen Strukturen, die seit circa einem Jahr gelebt werden, diese Klammer sein?
Mit der damaligen Gesetzgebung ging der Auftrag an die gematik, eine Koordinierungsstelle aufzubauen, die letztlich als Gastgeber, Moderator und konzeptioneller Anführer für einen runden Tisch, oder viele runde Tische, agieren sollte. Dort sollen die verschiedenen Akteure – ob Ärzt:innen in der Klinik, ob Industrie oder ob Expert:innen, die nach Dienstschluss in der Freizeit an Spezifikationen mitarbeiten – produktiv zusammenkommen, und das unter einer neuen Art der Fragestellung, nämlich: Wie sieht denn eigentlich der Datenfluss aus Sicht der Nutzer:innen aus? Wo haben wir Brüche im System, beim intersektoralen Übergang? Das sind die Patienten- bzw. Fachanwender-Journeys, die Sie in der Interop Roadmap finden. Um Ihre Frage zu beantworten: Der Anspruch der Koordinierungsstelle ist, diese Klammer zu sein.

Die gesetzliche Regelung brachte zwei Gremien, die bei der gematik angesiedelte Koordinierungsstelle Interoperabilität, die Sie leiten, und das Interop Council, aktuell unter Leitung von Sylvia Thun. Wie grenzen diese Gremien sich voneinander ab?
Eine Stelle alleine hätte die Anforderungen niemals erfüllen können, schon deswegen nicht, weil wir in der Koordinierungsstelle auf eine fachliche Unterstützung angewiesen sind. Deswegen wurde das Interop Council etabliert, das eine Art „Interoperabilitäts-Aufsichtsrat“ bildet. Dessen Kernaufgaben sind die fachliche Einordnung der Themen und die Priorisierung. Wir erhofften uns und sehen auch, dass die Mitglieder des Interop Councils die Ergebnisse und Standards in die jeweiligen Zielgruppen hineintragen, die sie repräsentieren. Als Koordinierungsstelle organisieren wir die Prozesse und managen die operative Arbeit. Fachlich ist das Interop Council im Lead.


Sehen Sie sich denn sowohl als Ansprechpartner für diejenigen, die einen Standard entwickeln, als auch für diejenigen, die zum Beispiel ein Versorgungsnetz aufbauen wollen und wissen wollen, was genau sie in Sachen Standards idealerweise tun sollten?

So sehen wir uns definitiv. Wir setzen das vor allem mit dem Interoperabilitätsnavigator (INA) um. Dieses Portal ist unsere universelle Anlaufstelle. Es gibt den Überblick über die großen Themen, bietet Mitwirkungsmöglichkeiten und vermittelt Kontakte. Über INA können Menschen, die aus der Versorgung kommen, Probleme melden und für die Bearbeitung vorschlagen. Das Portal soll einen regen Austausch orchestrieren und Fach- und Versorgungs-Community zusammenbringen.

Das INA-Portal ist Nachfolger des 2017 gelaunchten vesta-Portals, auch wenn optisch und funktionell nicht mehr viel an vesta erinnert. Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen vesta und INA?
Das INA-Portal ist einfach attraktiver, aus drei Gründen. Erstens: INA ist 100 Prozent transparent. Sie finden alle Sitzungen, alle Live-Mitschnitte, alle Protokolle. Zweitens: INA ist integrativ. Während vesta eher etwas für Liebhaber der Standardisierung war, schaffen wir es mit INA, zum Beispiel die großen medizinischen Fachgesellschaften einzubinden, die Deutsche Diabetes-Gesellschaft, die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie, die Deutsche Krebsgesellschaft. Drittens: INA ist kooperativ und niedrigschwellig. Sie können sich die Sitzungen der Arbeitskreise einfach ansehen, ohne sich anzumelden. Sie können sich auf der Plattform orientieren und den Einstiegspunkt für die Diskussion finden, national und bald auch international, denn wir werden die Inhalte im Laufe dieses Jahres auch auf Englisch veröffentlichen. Wir werden deutlich mehr Video-Content bekommen, der Wissen über die Spezifikation hinaus vermittelt, wie den Versorgungs- oder Implementierungskontext. Und wir werden die Plattform zu einer Brücke zu anderen Akteuren wie mio42 oder BfArM machen. Dass das funktioniert, sehen wir an den Zahlen: Bei vesta gab es knapp 60 beitragende Expert:innen in fünf Jahren. Beim INA-Portal sind es nach einem Jahr schon knapp 170. Oder nehmen Sie die Kick-off-Sitzung für den Arbeitskreis Terminologie-Services. Dort hatten wir knapp 60 Teilnehmer:innen. Das ist viel für ein recht spezielles Thema. Bei den Sitzungen des Interop Councils schalten um die 200 Leute zu – mehr als beim letzten Deutschen Interoperabilitätstag. Ich denke, der Versuch, das Thema Standardisierung aus der Kern-Community ­hinaus in andere Communitys zu tragen, trägt Früchte.

Ein Problem an vesta war ja nicht nur die für Nicht-Nerds de facto nicht nutzbare Plattform, sondern auch, dass weitgehend unklar war, welchen Impact die Listung eines Standards am Ende wirklich hatte. Hat sich das geändert?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel mit dem Arbeitskreis Herzinsuffizienz. Wir haben dort zehn Expert:innen aus unterschiedlichen Richtungen, die einen einheitlichen Standarddatensatz für Herzinsuffizienz fordern. Den wollen wir gemeinsam mit anderen erarbeiten; es gibt ihn bisher nicht. Im Nachgang zu dieser Arbeit wird es ihn geben, und die beteiligten Expert:innen haben zu diesem Konsensprozess ihren Beitrag geleistet und sehen auch das konkrete Ergebnis. Es wird den Datenfluss in diesem Teilbereich besser und effizienter machen. Bis das in der Versorgung ankommt, dauert das natürlich immer ein bisschen, klar.

Konkreter bitte: Der Arbeitskreis arbeitet fleißig, es kommt ein Standard-Datensatz dabei heraus, den alle gut finden. Was passiert, damit das dann auch wirklich genutzt, vielleicht auch in bestimmten Szenarien verpflichtend wird?
Es gibt da mehrere Möglichkeiten. Wir können daraus Handlungsempfehlungen ableiten, die wir dem Bundesministerium für Gesundheit überreichen, wo bestimmte Anforderungen dann über eine gesetzliche oder untergesetzliche Regelung verbindlich gemacht werden. Wir können es auch über das INA-Portal als empfohlenen Standard kommunizieren, der dann mit einer Übergangsfrist verbindlich werden kann. Entscheidend ist aber die weitere Zusammenarbeit mit der Community. Ein Standard ist zunächst einmal ein Schriftstück. Die Anwender:innen müssen ihn annehmen, und die Hersteller müssen ihn ent­wickeln und erproben können. Dafür brauchen wir Referenzvalidatoren, und diese setzen wir als gematik um. Die Anforderungen dafür erheben wir aktuell als Teil der Road­map. Letztlich wollen wir damit die Zeit verkürzen, in der aus einem Standard gelebte Realität wird. Wo können wir noch unterstützen? Wir fragen in der Community gezielt nach begleitenden Maßnahmen. Eine Erkenntnis aus dem Arbeitskreis Entwickler-Journey Onkologie aus Informatikersicht war, dass es in bestimmten Referenzfeldern, zum Beispiel Geburtsdatum, fünf Möglichkeiten für Schreibweisen gibt. Es braucht außerdem Wissenstransfer bzw. Schulungen. Auch da sind wir gemeinsam mit dem Interop Council dran, aber das ist natürlich alles noch im Aufbau. Ziel ist, Interoperabilität nicht als ein Papierdokument zu denken, sondern als vermittelnden Prozess für Nutzen in der Versorgung – und auch als Vehikel für einen Wettbewerbsvorteil in der Gesundheitswirtschaft. Es muss wirtschaftlich attraktiv sein, interoperabel zu sein.

Gibt es bei Ihnen koordinierende Strukturen, die dafür sorgen, dass die unterschiedlichen Pathways aufeinander abgestimmt sind? Es reicht ja nicht, sich nur innerhalb der Onkologie auf ein Format des Geburtsdatums zu verständigen, um beim Beispiel zu bleiben.
Das gibt es bislang nicht, aber das ist genau eine der Aufgaben an der Schnittstelle zwischen Interop Council, Koordinierungsstelle und den Fach-Communitys. Das ist definitiv ein nächster Schritt.

Die Roadmap, die Sie angesprochen haben, wurde im Dezember vorgelegt, sie bezieht sich auf 2023 und 2024. Was sind einige besonders relevante Bausteine, die jetzt abgearbeitet werden (sollen)?
Wichtig sind zunächst einmal gewisse Grundfunktionalitäten. Wir nutzen die Schwarmintelligenz der Community für das Anforderungsprofil an Terminologieserver, die das BfArM und die gematik dann umsetzen kann. Ähnlich ist es mit dem Referenzvalidator: Nach Erstellung des Anforderungsprofils mit Expert:innen im Arbeitskreis entwickelt entweder die gematik selbst oder gibt dies in Auftrag. Der zweite Teilbereich sind die Journeys in der Onkologie, der Kardiologie, der Diabetologie. Dort versuchen wir, ein Verständnis für die Versorgungsprozesse zu bekommen, Datenbrüche zu identifizieren und dann entsprechende Standards zu entwickeln. Hier sollten nicht zuletzt einfach umsetzbare Dinge im Vordergrund stehen. Natürlich müssen wir auch dicke Bretter bohren, aber wenn wir nur an dicken Brettern arbeiten, dann werden wieder Jahre ins Land gehen, bis sich etwas ändert. Der dritte Schwerpunkt sind Themen, die schon bearbeitet wurden, wo es aber unklar ist wie die Umsetzung tatsächlich klappt oder verbessert werden kann. Das betrifft die Archiv- und Wechselschnittstelle und ISiK. Hier wollen wir uns anschauen, mit welchen Maßnahmen wir diese Standards besser ins Feld bringen und die Verbindlichmachung flankieren können.

Wie kam es eigentlich zu der Roadmap? Wie wurden die Projekte priorisiert?

Die methodische Vorarbeit hat die Koordinierungsstelle mit dem Interop Council geleistet. Wir haben uns u.a. das DigitalRadar-Projekt genauer angesehen und letztlich ein für uns funktionierendes Kriterien-Set mit Scoring entwickelt. Danach haben wir den kompletten Expertenkreis eingeladen, Themen zu benennen, und wir haben mithilfe des Scorings priorisiert und einen Draft der Roadmap geschrieben, der ebenfalls kommentiert werden konnte. Daraus wurde in Abstimmung mit dem Interop Council die finale Roadmap. Das war kein politisches Gremium, sondern ein Praktiker-Dialog mit u.a. Anwenderseite, Industrie, und Standardisierungsorganisationen. Die Roadmap ist auch nicht in Stein gemeißelt. Wir können immer, also auch jetzt noch, im laufenden Prozess, Themen bewerten und priorisieren, und Arbeitskreise können Handlungsempfehlungen dazu einbringen.

Wie fällt Ihre Zwischenbilanz nach einem Jahr aus? Wo gibt es Bedarf an Nachjustierung?
Ich glaube, wir konnten zeigen, dass das, was wir hier machen, einen Nutzen stiftet. Es dominiert aber weiterhin die sektorale und akteursbezogene Aufgabenteilung. Hier müssen wir noch integrativer werden. Ein Beispiel, das ja auch viel diskutiert wird, ist die mio42, die gute Arbeit leistet. Deren Kommentierungsprozess ist aufwendig und nicht vergleichbar mit dem von HL7 oder anderen Standardisierungsorganisationen. Muss das so sein? Macht es das nicht unnötig kompliziert? Ein anderes Beispiel: Wenn wir neue Standards spezifizieren wollen, dann werden wir Semantik und Syntax, Terminologien und FHIR, sehr stark zusammen denken und bearbeiten müssen. Die Expertise dafür liegt zum einen beim BfArM, zum anderen bei mio42, zum dritten bei Standardisierungsorganisationen. Auch da: Wie kriegen wir das besser zusammen? Bislang lassen sich alle Beteiligten auf diesen Diskussionsprozess ein. Insofern sind wir optimistisch. Das andere ist die von Ihnen ja schon angesprochene Frage der Verbindlichkeit im Feld. Hier stellen sich politisch-regulative Fragen wie: Braucht es mehr Anreize? Sind an einzelnen Stellen Sanktionen nötig? Als gematik halten wir uns an dieser Stelle zurück, das ist Ordnungspolitik.

Mit wie vielen Leuten stemmen Sie Koordinierungsstelle und INA-Portal aktuell? Und reicht das?
Ich habe ein Team von fünf Leuten, mich nicht mitgezählt. Natürlich kriegen wir viel Unterstützung von den sieben Expert:innen aus dem Interop Council sowie von den Expert:innen in den Arbeitskreisen. Dennoch: Das ist eine ambitionierte Teamgröße. Ich glaube, dass wir damit auf Dauer nicht hinkommen. Auch wenn das nicht ganz vergleichbar ist: Eine mio42 hat zum Beispiel über 30 Leute. Da die Roadmap gerade erst gestartet ist und die Zahl der Arbeitskreise steigen wird, wird das absehbar mehr Aufwand werden für uns.

Das Interview führte Philipp Grätzel von Grätz, Chefredakteur E-HEALTH-COM