Es tut sich was im KIS-Markt. Dieser war im letzten Jahr erheblich in Bewegung geraten, vor allem durch den Rückzug von SAP und die Ankündigung des Unternehmens, den Support für IS-H zu beenden. Diese Entwicklung hat zahlreiche Krankenhäuser – darunter auch die Charité – dazu gezwungen, sich nach neuen KIS-Lösungen umzuschauen. Man sollte meinen, das würde etablierten Unternehmen wie Dedalus oder Meierhofer eine Chance zur Expansion eröffnen. Auf Nachfragen will sich niemand zu einzelnen Ausschreibungen äußern und grundsätzlich geben sich die meisten zuversichtlich. So sagt etwa Arne Petersen, Senior Vice President HIS DACH bei CompuGroup Medical: „Wir nehmen an allen relevanten Ausschreibungen teil und sind zuversichtlich, ein attraktives, auf die Anforderungen der Kunden und des deutschen Gesundheitswesens zugeschnittenes Angebot vorzulegen. Entscheidende Bedeutung haben neben der eigentlichen Lösungskompetenz zunehmend die Einführungsmethodik und -erfahrung sowie maßgeschneiderte Migrationsstrategien.“
Hinter den Kulissen jedoch ist Kritik zu hören. Die Ausschreibung der Charité sei so gestaltet, dass deutsche Firmen nicht mithalten können, und der zum Ärger der Branche vor einigen Monaten von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach gelobte US-Anbieter Epic habe wohl die besten Chancen, die Ausschreibung zu gewinnen, heißt es. Der US-Konzern Epic hat im März die Kooperation mit dem Cloud-Anbieter Genesys bekannt gegeben. Die Konzerne hoffen, nach dem SAP-Ausstieg nun auch auf dem deutschen Markt kräftig mitmischen zu können.
Enttäuschung über den Ausschreibungsprozess
William Oliver, Chief Customer Officer (CCO) und Mitglied der Mesalvo Geschäftsführung, formuliert es vorsichtig: „Die Anziehungskraft großer internationaler Anbieter macht aus funktionaler Sicht Sinn, ist aber einfach zu teuer und entspricht nicht den Workflow-Herausforderungen deutscher Krankenhäuser. Die Chance für DACH-Anbieter besteht darin, echte klinische Funktionalitäten anzubieten, die dem Ansatz der internationalen Anbieter ähneln. Deutsche Anbieter haben die Chance, internationale Player zu verdrängen, indem sie den Dokumentationsaufwand bei möglichst geringer Interaktion mit dem System reduzieren.“ Martina Götz, Director Marketing and Communications DACH vom deutschen Marktführer Dedalus, sieht ihr Unternehmen in einer Bieterposition mit wenig erfolgreichen Aussichten und zeigt sich deutlich enttäuscht: „Obwohl Dedalus alle Funktionen bietet und den Rahmen der Ausschreibung bei Weitem übertrifft, sehen wir unsere Chancen in der Charité-Ausschreibung eher gering. Wir erleben den Auswahlprozess der Klinik nicht als offen und mit wenig Möglichkeiten für deutsche IT-Anbieter.“
Auf Anfrage des Handelsblatts gab die Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege an, für den KIS-Wechsel der Charité 90 Millionen Euro für „überwiegend investive Kostenbestandteile“ eingeplant zu haben. Sollte der Deal tatsächlich an Epic gehen, dürfte die Branche entsprechend verärgert sein und sich ungut an Lauterbachs zu Beginn des Jahres geübte Kritik an hiesigen KIS-Systemen erinnert fühlen.
Insgesamt jedoch sieht die Auftragslage auf dem KIS-Markt derzeit gut aus. „Wir erwarten eine vielversprechende Perspektive für den deutschen Markt der KIS-Hersteller nach dem SAP-Ausstieg“, so Götz. Schon im Zuge des KHZG konnten Anbieter wie CompuGroup im vergangenen Jahr ihre Umsätze steigern. Hinzu kommen Pflegenotstand, Fachkräftemangel, Krankenhausreformen, Insolvenzen und die Notwendigkeit zur Ambulantisierung. Diese Faktoren, in Kombination mit der bevorstehenden Abkündigung von SAP IS-H und i.s.h.med-Systemen bis 2030, verstärken den Druck auf die Leistungserbringer und spülen eine steigende Anzahl von Eingängen in die Auftragsbücher der Anbieter, die sich ihrerseits fragen, wie sie diese rechtzeitig umsetzen können. Nach außen jedoch geben sich die meisten optimistisch.
Auch für neue Unternehmen gibt es derzeit viele Gelegenheiten, sich auf dem Markt zu etablieren. Doch das geschieht nicht ohne die Überwindung einiger Hürden, sagt Dr. Sebastian Krammer, Co-Founder bei Avelios Medical, auf der DMEA. Seine Firma bietet eine modular betriebene Klinikplattform an. Häufig würde ein System ausgeschrieben, das dann erst in fünf Jahren installiert würde, erklärt Krammer. Er wünscht sich mehr Mut aufseiten der Kliniken, ausgetretene Pfade zu verlassen. „Um nichts falsch zu machen, schafft man sich den nächsten Monolithen an. Wenn man wirklich modern unterwegs sein will, ist ein offenes Verfahren wichtig, in das man später tatsächliche Innovationen einfügen kann.“ In einer Welt, in der technologischer Fortschritt immer schneller passiert, erweist sich ein behäbiges und unflexibles Ausschreibungswesen als ein Hemmnis, das letztlich Krankenhäuser bei der dringend notwendigen Modernisierung ausbremst.
Modernisierung muss schneller werden
Und die ist dringend notwendig: Noch immer sind deutsche Krankenhäuser technologisch nicht auf dem neuesten Stand. Heute sollen KIS miteinander kommunizieren, und kommt erst einmal die Nutzung der ePA durch das Opt-out-Verfahren in Schwung, braucht es KIS, die in der Lage sind, effizient mit der ePA zu kommunizieren und eine nahtlose Patientenversorgung zu unterstützen. Das sind Anforderungen, die die meisten KIS-Systeme derzeit nicht erfüllen.
Auch der Trend zu Cloud-Systemen läuft gerade erst an. Vor gut einem Jahr meldete das Fachklinikum Mainschleife als erstes deutsches Haus, seinen Netzwerk- und Software-Betrieb komplett in die AWS Cloud zu verlagern. Weitere werden folgen, denn Cloud-KIS bieten sich als skalierbare, kostengünstige Lösungen für die Datenspeicherung und Rechenleistung an. Durch deren Nutzung wollen sich Gesundheitsdienstleister mehr auf die Gesundheitsversorgung konzentrieren, anstatt die IT-Infrastruktur zu verwalten, und so die Zugänglichkeit und Sicherheit von Daten gewährleisten und gleichzeitig die gesetzlichen Standards einhalten.
Insgesamt jedoch scheint die Modernisierung der KIS-Systeme in den Krankenhäusern nicht schnell genug voranzugehen. Der Rückzug von SAP aus dem Markt hat diesen nach Ansicht mancher Expert:innen geschwächt. Dr. Henriette Neumeyer, Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), spricht gar von einer „Riesenkrise“. „Wir haben Anbieter, die abtreten, weil sie keine Lust mehr auf den deutschen Markt haben“, mahnt sie und fordert, sich nicht nur auf die Politik zu verlassen, sondern gemeinschaftliche Anstrengungen zu unternehmen, denn: „Das BMG wird nicht das KIS der Zukunft bauen.“
Trotz der berechtigten Kritik war auch etwas von ebenjenem engeren Zusammenrücken aller Akteur:innen auf der diesjährigen DMEA zu spüren. So scheint endlich Bewegung in den über viele Jahre stagnierenden Bereich der Interoperabilität zu kommen. Prof. Dr. Sylvia Thun, Direktorin der Core Unit eHealth und Interoperabilität (CEI), berichtet, dass sich der international genutzte FHIR-Standard nun auch in Deutschland weiter durchsetzt. Der Standard sei nicht nur dazu da, Gesundheitsdaten auszutauschen, sondern auch eine Voraussetzung, um Forschung betreiben zu können, erinnert sie.
Matthias Meierhofer, Vorstandsvorsitzender und Gründer der Meierhofer AG, sieht einen weiteren positiven Trend, nämlich den hin zu einer prozessualen Betrachtung von Abläufen und deren Abbildung in KIS-Systemen. Generisch kommen KIS aus der Administration eines Krankenhauses, weshalb bisher zu wenig für die Abbildung der Prozesse getan wurde. „Ich glaube, mit FHIR ändert sich das jetzt langsam. Man versteht nun, dass man eine prozessuale Sicht auf das KIS haben muss, weil man heute den ganzen Datenfluss abrechnen und Daten nach außen geben muss“, so Meierhofer.
KIS-Hersteller sollten sich darauf einstellen, dass Kliniken das KIS in Zukunft nicht mehr hauptsächlich als administratives Werkzeug nutzen werden. Stattdessen fordern die Krankenhäuser, dass die Patient Journey im KIS dargestellt und dokumentiert wird, inklusive klar definierter Schnittstellen für Interaktion und Kommunikation an spezifischen Interventionspunkten entlang des Behandlungspfades. Die IT-Landschaft in Krankenhäusern wird vielfältiger und anspruchsvoller, was zu einer Neuausrichtung der KIS führt. Darum müssen diese zunehmend standardisierte Schnittstellen für datengetriebene Prozesse und externe Anwendungen integrieren.
In der Folge sind die Anbieter mit der Aufgabe konfrontiert, Produkte zu entwickeln, die bei verschiedenen Digitalisierungsstrategien einen deutlichen Mehrwert erkennen lassen. Standardisierte Schnittstellen und Protokolle gelten in jeder Digitalisierungsstrategie als unerlässlich und spielen eine entscheidende Rolle bei der Auswahl der KIS-Lieferanten.
Bessere Kooperation
An vielen bestehenden Baustellen kooperieren inzwischen Verantwortliche deutlich besser miteinander, als das früher der Fall war. Thun erlebt in ihrer Arbeit, dass sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Medizinerinnen und Mediziner mit Health Agencies und der Industrie zusammentun, um die Regulatorik aus dem Elfenbeinturm herauszuholen und stärker an praktischen Anforderungen zu orientieren. Bis das in der praktischen Umsetzung ankommt, braucht es allerdings noch etwas Zeit und ein wenig mehr Frustrationstoleranz aufseiten der Anwendenden und Hersteller.
Neben der Bearbeitung aktueller Themen müssen die KIS-Unternehmen auch noch den Blick nach vorne richten und sich fragen, was kommt. Und hier führt kein Weg an KI vorbei. Die nächsten Schritte in der Weiterentwicklung von KIS in Deutschland umfassen die verstärkte Nutzung von Künstlicher Intelligenz zur Optimierung der Diagnoseverfahren und Behandlungspfade.
Hier arbeiten Anbieter bereits emsig an unterschiedlichsten Anwendungen. So bietet die Meierhofer AG mit M-KIS Now eine Lösung, die schnelle und ressourcenschonende Systemwechsel verspricht, unterstützt durch standardisierte Prozesse und vordefinierte KIS-Komponenten. CGM hat im letzten Jahr eine Initiative gestartet, um den Einsatz von KI, maschinellem Lernen und Large Language Models konzernweit auszuweiten. Aktuell entwickelt das Unternehmen für Kliniken eine KI-basierte Anwendung, mit der Ärzt:innen auf Basis der künftig digital verfügbaren Klinikdaten gezielte Fragen im Behandlungskontext stellen können. Erste Tests mit Pilotkunden sollen im Laufe des Jahres anlaufen. Bei Dedalus geht man davon aus, dass sich die verstärkte Nutzung von KI und Large Language Models innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre durchsetzen und den Gesundheitssektor transformieren wird. „Als KIS-Hersteller sind wir darauf vorbereitet, diese Trends aktiv anzugehen und unsere Produkte entsprechend weiterzuentwickeln“, verspricht Götz.
Eine weitere Entwicklung, die sich schon länger abzeichnete und jetzt noch einmal stärker in den Fokus gerückt ist, ist die fortschreitende Mobilität der IT im Gesundheitswesen. Patient:innen werden mit mobilen Anwendungen und tragbaren Technologien in Echtzeit überwacht, greifen beispielsweise über Patientenportale auf ihre medizinischen Daten zu und beteiligen sich aktiv an ihrer Behandlung. Dafür bilden in der Regel Plattformen die Basis. Bereits existierende Lösungen werden von den Unternehmen sukzessive modernisiert, um den sich ändernden Anforderungen gerecht zu werden, allerdings ist dies mit hohen Aufwänden verbunden und kann sich außerdem in Preiserhöhungen niederschlagen.
Das Krankenhausinformationssystem (KIS) erlebt eine transformative Phase, in der technologische und marktbedingte Herausforderungen die Landschaft erheblich prägen. Der Rückzug von SAP hat eine Lücke hinterlassen, die neue und etablierte Anbieter als Chance für Expansion sehen, obwohl die Ausschreibungsverfahren Herausforderungen aufzeigen und Kritik an der Offenheit des Prozesses hervorrufen. Die Gesamtsumme dieser Entwicklungen zeigt die Dringlichkeit für Verbesserungen und Anpassungen im Bereich der KIS auf.
In diesem dynamischen Umfeld ist eine stärkere Kooperation zwischen allen Akteur:innen des Gesundheitswesens entscheidend, wobei sich die ständige Weiterentwicklung von Lösungen mehr denn je als der Schlüssel für Hersteller erweist, um sich auf dem Markt zu halten. Sie müssen sich gemeinsam mit den Krankenhäusern auf eine Landschaft einstellen, die langfristig durch technologische Fortschritte und regulatorische Anforderungen ständig in Bewegung ist.