An digitalen Tagebücher für Patient:innen mit Migräne mangelt es sich. Die Deutsche Migräne- und Kopfschmerz-Gesellschaft (DMKG) hat ein entsprechendes Angebot, die Schmerzklinik Kiel ein weiteres. Was bisher nicht gelang: die digital gestützte Versorgung zu einem Bestandteil der Regelversorgung beim Kopfschmerz bzw. speziell bei der Migräne zu machen.
Über-, Unter- und Fehlversorgung sind die Regel
Dabei ist der Bedarf riesig: „Migräne ist häufig, und wir haben ein hohes Maß an Über-, Unter- und Fehlversorgung“, sagte PD Dr. Ruth Ruscheweyh, Kopfschmerzambulanz der Neurologischen Klinik und Poliklinik der LMU München. Das Problem bei der Migräne-Versorgung ist, dass die besten Akuttherapien, die Triptane, oft nicht verordnet werden, in der hausärztlichen Versorgung nicht, aber auch die fachärztliche Versorgung ist hier jenseits der auf Kopfschmerz spezialisierten Praxen nicht sehr vorbildlich. Außerdem gibt es bei den nicht-medikamentösen Therapien und bei den Migräneprophylaxen erhebliche Defizite. Im Ergebnis sind sowohl Patient:innen mit leichter bis moderater als auch solche mit schwerer Migräne regelmäßig suboptimal versorgt.
Manch einer hatte angesichts dieser Ausgangssituation Hoffnungen in die Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) gesetzt. Prof. Dr. Dagny Holle-Lee, Leiterin des Kopfschmerzzentrums am Universitätsklinikum Essen, hatte zum Beispiel eine Zeitlang mit dem Gedanken gespielt, eine DiGA für Kopfschmerzpatient:innen zu etablieren. Sie ist davon für den Moment aber abgekommen: Die von ihr mitentwickelte, inhaltlich ambitionierte Headacy-App gibt es bis auf Weiteres „nur“ als reguläre, nicht BfArM-zertifizierte Kopfschmerz-App in den App-Stores.
Klappt der Weg über den Innovationsfonds?
Über eine andere Schiene wird jetzt ein neuer Anlauf unternommen, die Migräne-Versorgung fit fürs 21. Jahrhundert zu machen. Beim Deutschen Kopfschmerzkongress der DMKG, der in diesem Jahr in Köln stattfand, stellte Ruscheweyh das Innovationsfonds-Projekt MIGRA-MD vor, für das Anfang Juni der offizielle Startschuss fallen wird. Wie bei den Kopfschmerz-DiGAs geht es auch beim MIGRA-MD Projekt nicht nur um medikamentöse, sondern auch um nicht-medikamentöse Maßnahmen. Ziel ist eine ganzheitliche, multimodale Versorgung. Die braucht viel Zeit, und deswegen sollen digitale Tools zum Einsatz kommen, die die Akeur:innen auf vielfältige Weise unterstützen.
Das MIGRA-MD Projekt zielt auf die fachärztliche Migräne-Versorgung und ruht auf drei Säulen, nämlich Schulungen der Neurolog:innen, Vernetzung von „normalen“ Praxen mit spezialisierten Zentren und Digitalisierung. Zum Einsatz kommen die DMKG-App auf Patientenseite, außerdem digitale Kopfschmerzfragebögen sowie ein Arztportal, das Patientenpfade mit Checklisten hinterlegt, um die Praxen zu leiten. Über das Portal können auch unkompliziert strukturierte Arztbriefe erstellt und Expertenkonsile angefordert werden – Stichwort Bürokratieabbau. Patientenseitig gibt es nicht nur das obligate Kopfschmerztagebuch, sondern es wird auch großer Wert auf Edukation gelegt, mit Modulen, die unter anderem die Erkrankung, die medikamentöse Therapie, Sport und Physiotherapie sowie psychologische Dimensionen der Migräne adressieren.
Randomisierung ab Anfang 2026
Da MIGRA-MD ein Innovationsfonds-Projekt ist, muss die multimodale Intervention ihre Effektivität in einer randomisierten Studie nachweisen, um eine Chance auf Transfer in die Regelversorgung zu haben. Diese Studie wird Anfang 2026 mit der Rekrutierung starten. Insgesamt 1000 Patient:innen sollen es werden, an rund 50 Zentren und Praxen überall im Land. Teilnehmen können nur Patient:innen, die bisher noch keine multimodale Therapie und noch keine Zentrenbehandlung hatten. In der Kontrollgruppe gibt es „treatment as usual“, also die Standardtherapie an der jeweiligen Einrichtung.
Den Erfolg der digital hinterlegten, multimodalen Intervention nachzuweisen, wird nicht ganz einfach werden, da anzunehmen ist, dass die teilnehmenden Praxen solche sind, die ohnehin ein Interesse am Thema Kopfschmerz haben. Primärer Endpunkt sind zum einen die monatlichen Kopfschmerztage, zum anderen die mit dem HIT-6 Fragebogen quantifizierten Auswirkungen des Kopfschmerzes auf den Alltag. Sekundär werden u.a. Migräne-Tage, Schmerzmittel-Tage und ökonomische Faktoren gemessen. Versorgungspolitisch umgesetzt wird das Ganze als Selektivvertrag. Konsortialpartner auf Krankenkassenseite sind zunächst die Barmer und die AOK Bayern; das Fördervolumen beträgt 5,3 Millionen Euro.