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Vernetzung |

Interoperabilität – Voraussetzung für Künstliche Intelligenz und Big Data in der Medizin

Bild: © ipopba - Fotolia

Künstliche Intelligenz (KI) und Big Data sollen die Medizin revolutionieren. Doch erst mit internationalen Standards und interoperablen Systemen kann das Potenzial moderner KI-Anwendungen und digitaler medizinischer Daten voll ausgeschöpft werden.

 

Die  Erwartungen an ein digitalisiertes Gesundheitssystem sind groß. Künstliche Intelligenz (KI) und Big Data – so die Hoffnung – ermöglichen neuartige, personalisierte Therapien, eine präzisere Diagnostik sowie eine effektivere Prävention von Krankheiten. Dadurch wird die Patientenversorgung verbessert und Kosten werden gesenkt.


Doch damit Big Data und KI-Anwendungen ihren vollen Nutzen entfalten können, müssen unterschiedliche IT-Systeme und Datenquellen interoperabel miteinander kommunizieren können. Krankenhäuser, Arztpraxen, Krankenversicherungen, Labore, mobile Gesundheitsapps – erst wenn Daten über all diese Systeme hinweg verarbeitet werden können, wird das Potenzial von KI und Big Data voll ausgeschöpft.


Diese digitale Vernetzung der Gesundheits-IT erfordert verbindliche Interoperabilitätslösungen. Doch während KI und Big Data als „buzz words“ längst einer breiten Öffentlichkeit bekannt sind und entsprechend gefördert werden, gibt es bei der Interoperabilität noch viel zu tun. Dabei ist gerade hier der Handlungsbedarf besonders groß. Denn es sind weniger die fehlenden Algorithmen der KI-Forscher, die einem digitalen Gesundheitssystem im Weg stehen – hier gibt es längst viele innovative Ansätze. Es mangelt eher am Einsatz verbindlicher internationaler Standards und interoperabler Systeme. Ohne diese interoperablen Systeme bleiben Big-Data-Technologien und KI-Anwendungen hinter ihren Möglichkeiten zurück und ein digital vernetztes Gesundheitssystem mit maßgeschneiderten Therapien und Präzisionsmedizin bleibt Vision.


Valide KI-Anwendungen erfordern strukturierte Daten und semantische Interoperabilität
Big Data verspricht neue medizinische Erkenntnisse durch die Analyse großer, meist unstrukturierter Datenmengen. Und tatsächlich können moderne Algorithmen bis zu einem gewissen Grad Wissen aus unstrukturierten Daten extrahieren (z.B. mit Methoden des Natural Language Processing auf Freitext-Daten). Doch generell gilt der bekannte Spruch aus der Informatik: „Garbage in, garbage out“. Wenn die benötigten Informationen nicht in den Daten enthalten sind oder deren Qualität zweifelhaft ist, nützen auch die besten Algorithmen und größten Datenmengen nichts. Im schlimmsten Fall liefern die Analysen dann sogar falsche Ergebnisse, die wenig Nutzen bringen.


Umgekehrt gilt, dass sich mit statistischen Methoden und KI-Anwendungen umso leichter valide Informationen aus großen Datenmengen gewinnen lassen, je besser diese strukturiert sind. Hier ist besonders die semantische Inter­operabilität der Daten wichtig. Dafür müssen medizinische Fachbegriffe in einer einheitlichen, maschinenlesbaren Sprache gespeichert werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass automatisierte Methoden beispielsweise einen Herzinfarkt korrekt als solchen klassifizieren – unabhängig davon, ob dieser als „Herzinfarkt“, „akuter Myokardinfarkt“, „AMI“, „cardiac infarction“ oder „infarto de miocardio“ dokumentiert wurde.


Als einheitliche Sprache für medizinische Begriffe stehen internationale Nomenklaturen, Terminologien und Ontologien zur Verfügung. Von diesen stellt SNOMED CT mit etwa 340 000 hierarchisch verbundenen medizinischen Konzepten eines der mächtigsten Begriffssysteme dar und ist dem bisher in Deutschland verwendeten, rein statistischen Klassifikationssystem ICD-10 an Ausdrucksstärke überlegen. Der Einsatz internationaler Begriffssysteme (wie SNOMED CT) kann die semantische Interoperabilität verbessern, und so valide Analysen medizinischer Daten mithilfe von KI- und Big-Data-Technologien ermöglichen.


IT-Unternehmen setzen auf offene Standards für interoperable Schnittstellen
Neben der semantischen Interoperabilität erfordert der Austausch von Gesundheitsdaten standardisierte Schnittstellen zwischen den unterschiedlichen IT-Systemen. Denn um Big-Data- und KI-Technologien überhaupt auf die Fülle medizinischer Daten anwenden zu können, dürfen diese nicht in isolierten Datensilos verschwinden, sondern müssen systemübergreifend verarbeitet werden können. Statt verteilter proprietärer Insellösungen bedarf es dafür verbindlicher internationaler Standards.
Das haben auch die großen IT- und Internetkonzerne erkannt: Im August 2018 haben sich Amazon, Google, IBM, Microsoft, Oracle und Salesforce in einem offenen Brief dazu bekannt, Interoperabilitätshürden in der Gesundheits-IT abzubauen und dabei auf offene Standards zu setzen.

 

Der Brief geht von folgenden Grundannahmen aus:

  • Der reibungslose Austausch von Gesundheitsdaten wird zu einer besseren Versorgung, höherer Patientenzufriedenheit und niedrigeren Kosten führen.
  • Um erfolgreiche Interoperabilitätslösungen für Gesundheitsdaten zu schaffen, müssen die Belange aller Beteiligten berücksichtigt werden – Patienten, Leistungserbringer, Krankenversicherer, App-Entwickler, Medizingeräte- und Arzneimittelhersteller, Arbeitgeber, Forscher und andere.
  • Offene Standards, Spezifikationen und Open-Source-Tools sind für den reibungslosen Datenaustausch unerlässlich. Dies erfordert technische Strategien und Zusammenarbeit innerhalb der Branche sowie die Verwendung aufkommender Standards wie HL7 FHIR.
  • Es wird anerkannt, dass der reibungslose Austausch von Gesundheitsdaten ein fortlaufender Prozess ist, und die beteiligten Unternehmen verpflichten sich zu einer aktiven Beteiligung in den entsprechenden Open-Source-Communities, um so die Weiterentwicklung entsprechender Standards voranzutreiben.

 

Der erwähnte HL7-Standard FHIR (Fast Healthcare Interoperability Resources) wird bereits von Apples Health App verwendet und hat durch seine Anbindung an moderne Webtechnologien besonderes Potenzial, sich als offener Standard für Gesundheitsanwendungen zu etablieren. Die Verwendung dieser Standards ist gerade auch für das fragmentierte deutsche Gesundheitswesen hochrelevant, um den Austausch medizinischer Informationen über System-, Einrichtungs- und Sektorengrenzen hinweg zu gewährleisten. HL7 FHIR kann dazu beitragen, diesen Austausch von Gesundheitsdaten in Echtzeit zu ermöglichen und international kompatibel zu bleiben.


Internationale Spezifikationen bei der ePatientenakte ermöglichen Präzisionsmedizin und länderübergreifende Forschung
Ein wichtiger Schritt in Richtung Digitalisierung und ­eHealth ist die Einführung der elektronischen Patientenakte nach § 291a SGB V. Diese digitale Akte ermöglicht den reibungslosen und verlustfreien Austausch von Informationen zwischen Leistungserbringern und Patienten und kann so zu einer effizienteren Versorgung beitragen.


Doch auch bei der elektronischen Patientenakte sollte auf eine internationale Anbindung durch Verwendung geeigneter Standards und Spezifikationen geachtet werden. Diese internationale Anbindung ist besonders wichtig für Forschung zu personalisierten Therapien und Präzisionsmedizin, da Studien auf diesem Gebiet große, möglichst länder­übergreifende Patientenkohorten erfordern. Gleiches gilt für Seltene Erkrankungen, für die aufgrund der geringen Patien­tenzahlen ebenfalls eine umfangreiche, länderübergreifende Datenbasis für sinnvolle statistische Analysen benötigt wird. Für die internationale Anbindung der elektronischen Patien­tenakte kann auf bereits bestehende Arbeiten wie beispielsweise die Spezifikationen zur International Patient Summary von HL7 zurückgegriffen werden.


Interoperabilität rettet Leben
Während in der öffentlichen Diskussion über Big Data und KI oft die Risiken digitaler Patientendaten und die Gefahr des Datenmissbrauchs betont werden, besteht auch ein umgekehrtes Risiko: Die fehlende Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten kann beispielsweise Kommunikationslücken verursachen, die im schlimmsten Fall das Leben der Patienten aufs Spiel setzen (z.B. durch vermeidbare unerwünschte Arzneimittelwechselwirkungen). Außerdem beeinträchtigt der fehlende Zugang zu digitalen Gesundheitsdaten die medizinische Forschung und verzögert die Umsetzung neuer medizinischer Erkenntnisse in der klinischen Praxis.


Interoperable Systeme helfen dabei, Kommunikationslücken zu vermeiden, indem sie Ärzten einrichtungsübergreifend den einfachen Zugriff auf benötigte Informationen ermöglichen. Auf diesen interoperablen Systemen können dann KI-Anwendungen wie z.B. Clinical-Decision-Support- oder Alarmsysteme aufsetzen und dabei helfen, Risikofälle besser zu identifizieren.


Auch die medizinische Forschung profitiert von standardisierten, interoperablen Datenquellen, die mit modernen statistischen Methoden einrichtungsübergreifend ausgewertet werden können. Dies kann den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess beschleunigen, sodass neue Behandlungsmethoden den Patienten schneller zur Verfügung stehen.


Fazit
Ein digital vernetztes Gesundheitssystem erfordert inter­operable Schnittstellen und einheitliche medizinische Begriffssysteme. Erst die Verwendung internationaler Standards und verbindlicher Interoperabilitätslösungen eröffnet die vollen Möglichkeiten von Big-Data- und KI-Technologien und schafft so geeignete Rahmenbedingungen für eine digitale Medizin.

 

Text: Prof. Dr. med. Sylvia Thun und Dr. Moritz Lehne