In der medizinischen und speziell onkologischen Versorgung gibt es immer mehr Medikamente, die mit nicht optimaler Evidenz zugelassen werden. Das ist durchaus gewollt und kommt vielen Patient:innen zugute. Denn es geht dabei oft um Medikamente für bestimmte Subgruppen oder um seltene Erkrankungen, bei denen die Generierung von hochwertiger Evidenz in überschaubarer Zeit schwierig ist. Mit anderen Worten: Eine frühere Zulassung verbessert den Zugang schwer kranker Menschen zu innovativen Therapien.
Evidenzgenerierung nach Zulassung funktioniert nicht
Das Problem daran sei, so der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), Prof. Dr. Josef Hecken, dass die Evidenz dann auch nach der Zulassung nicht oder wenn dann nur extrem langsam generiert werde. Denn so war das ursprünglich gedacht: Die Behörden lassen Medikamente früh zu, der G-BA ermöglicht eine frühe Erstattung. Im Gegenzug wird nach Zulassung in einer anwendungsbegleitenden Datenerhebung (AbD) Evidenz nachgeliefert, die dann – das ist die Kernaufgabe des G-BA-Prozesses – genutzt werden kann, den endgültigen Preis des innovativen Medikaments festzulegen.
Das aber funktioniere hinten und vorne nicht, so Hecken beim Summit der Initiative Vision Zero Oncology in Berlin: „Wir müssen mit jedem pharmazeutischen Unternehmer ein neues Studienprotokoll verhandeln und Register suchen, selbst wenn es das identische Anwendungsgebiet ist.“ Heckens Lieblingsbeispiel ist die spinale Muskelatrophie. Hier gebe es drei AbD die vor zweieinhalb Jahren begonnen wurden, erste Ergebnisse gebe es in vier Jahren: „Dann ist das Patent schon fast abgelaufen.“
Prospektives Kohortenmodell soll AbD ablösen
Was tun? Für Hecken sind die AbD ein „totgerittenes Pferd“, das besser heute als morgen beerdigt werden sollte. Er würde stattdessen gerne hin zu einer evidenzbasierten Preisfindung in einem kollektiven Kohortenmodell. Bei einem solchen Modell würde ab Zulassung ein vom G-BA festzulegender Interimspreis gelten. Und es würden dann Behandlungsergebnisse über mehrere Jahre in Kohorten erfasst – hinterlegt mit einem je nach Evidenzlage dynamisch sich ändernden Erstattungsbetrag.
Konsequente Digitalisierung ist für ein solches Kohortenmodell eine Conditio-sine-qua-non. Hecken stellt sich eine weitgehende automatisierte Befüllung der entsprechenden Register vor, sowie prädefinierte Datenschnitte zu bestimmten Zeitpunkten, bei denen die Auswertung ebenfalls weitgehend automatisiert erfolgt: „Ohne solche Modelle werden wir weder vernünftige Evidenz bekommen noch faire Preise verhandeln können.“
Aber die ePA! Aber das Registergesetz!
Unter dem Stichwort „wissensgenerierende Versorgung“ sind solche Modelle seit Längerem fester Bestandteil des Digitalisierungsdiskurses im deutschen Gesundheitswesen. Mal wird die elektronische Patientenakte (ePA) als Datenquelle für solche Analysen angepriesen. Mal werden von Menschen, die etwas näher am Thema sind und die die Tücken derartiger Forschung kennen, Register ins Spiel gebracht, bei denen die Datenqualität deutlich besser ist als sie in einer ePA jemals sein wird. „Registergesetz“ ist da seit Jahren ein beliebtes Stichwort. Es hat gerade wieder Konjunktur, seit es im neuen Koalitionsvertrag explizit genannt wird.
Für Hecken sind das alles zwar legitime Digitalisierungsvorhaben. In Sachen Evidenzgenerierung sei das Registergesetz aber nicht zielführend: „Bis wir auf Basis von Komponenten eines Registergesetzes Daten für den AMNOG-Prozess generieren können, dauert es Jahre.“ Der G-BA-Vorsitzende hat deswegen einen anderen Vorschlag, für den es bisher bei der in digitale Großprojekte verliebten Politik aber noch keine offenen Ohren gibt: „Ich würde schrittchenweise vorgehen.“
Plädoyer für Digitalisierung durch Zentrenzwang
Konkret hätte Hecken für den G-BA gerne die politische Ermächtigung, in Situationen, in denen der G-BA heute eine AbD einleiten darf – „und darüber hinaus“ – eine Sonderversorgung zu mandatieren. Dabei dürfte die Diagnostik und die Therapieeinleitung nur an ausgewiesenen Zentren erfolgen. Dieses Modell existiere für die CAR-T-Zell-Therapie und funktioniere da gut, so Hecken. Der Charme am Zentrenmodell: Der G-BA könnte festlegen, dass nur dann vergütet wird, wenn die verordnenden Ärztinnen und Ärzte die Daten auch zeitnah in das Kohortenregister einspeisen und damit einer zeitnahen Auswertung zugänglich machen.
In der Digitalisierungsszene sähen manche an dieser Stelle neue Insellösungen entstehen. Aus politischer Sicht freilich hätte diese „Zentrendigitalisierung zur Evidenzgewinnung“ freilich den Charme, dass sie im Prinzip sofort starten könnte. Prototypen gibt es im Innovationsfonds, etwa das Projekt DigiNet beim nichtkleinzelligen Lungenkarzinom oder das Deutsche Netzwerk Personalisierte Medizin (ZPM). In einer übergreifenden Infrastruktur zusammengeführt werden könnte das alles dann immer noch.