E-HEALTH-COM ist das unabhängige Fachmagazin für Gesundheitstelematik, vernetzte Medizintechnik , Telemedizin und Health-IT für Deutschland, Österreich und die Schweiz.
Mehr

Für das ePaper anmelden

Geben Sie Ihren Benutzernamen und Ihr Passwort ein, um sich an der Website anzumelden

Anmelden

Passwort vergessen?

Top-Thema |

»Wir müssen einen Sprung machen«

Die gematik wurde unter Jens Spahn gestärkt, und der Koalitionsvertrag sieht eine weitere Stärkung vor. Gleichzeitig ruckelt es beim Rollout der TI-Anwendungen kräftig, und auch auf dem Weg in Richtung TI 2.0 tun sich Hürden auf. Zeit, mit gematik-Chef Markus Leyck Dieken ein Wörtchen zu reden.

Foto: © gematik/Jan Pauls

Wer oder was ist die gematik im April 2022?
Die gematik im April 2022 ist eine sich der Öffentlichkeit zeigende, exponierende Agentur für Deutschland, die dafür sorgen soll, dass wir gemeinsam zu einer modernen, digitalen Plattform und Kommunikationsinfrastruktur für das deutsche Gesundheitswesen kommen, die dank Nutzung moderner IT-Standards in Europa anbindungsfähig ist.

Stichwort moderne Infrastruktur: Telematikinfrastruktur 2.0 oder „TI 2.0“ ist das Schlagwort, das in diesem Zusammenhang seit etwas mehr als einem Jahr im Raum steht. Worin unterscheidet sich die TI 2.0 von dem, was heute in den Arztpraxen, Apotheken und Krankenhäusern ausgerollt ist?
Die TI 2.0 ist die Lehre aus den letzten zwei Jahren. Wir haben uns angesehen, warum das, was wir in Deutschland als TI implementiert haben, so hölzern, so träge und, ja, auch so fehleranfällig ist. Und da wurde schnell klar, wir können mit dieser Infrastruktur niemals die Anforderungen der Zukunft erfüllen. Entsprechend haben wir einen Prozess gestartet, bei dem wir überlegt haben, was die entscheidenden Elemente sind, die in Israel, USA und anderen Ländern eine resiliente Infrastruktur der heutigen Zeit ausmachen. Die Technik, die wir im Moment einsetzen, ist konzeptionell zwanzig Jahre alt. Wir müssen einen Sprung machen, und den machen wir.

Kritiker sagen ja, das Schlagwort TI 2.0 sei in vielem noch eine Worthülse. Es gibt das Whitepaper, mit dem der Prozess angestoßen wurde. Es gibt ein technisches Konzeptpapier, darüber hinaus liegt schriftlich bisher noch wenig vor. Mehr noch: Aktuell gab es einen deutlichen Rückschlag: Die Hardware-Konnektoren, bei denen es zu Jens Spahns Zeiten hieß, dass die damals ausgerollte Konnektor-Generation definitiv die letzte Hardware-Konnektor-Generation vor der TI 2.0 sein werde, müssen jetzt doch noch mal ausgetauscht werden – eine vielleicht sechsstellige Zahl an Geräten zu einem vielleicht dreistelligen Millionenbetrag. Wer hat da nicht mitgedacht?
Wir müssen zwei Dinge auseinanderhalten. Die eine Frage ist: Welches sind die konstituierenden Bestandteile der TI 2.0? Da gibt es sehr konkrete Themen, die aktuell auch sehr konkret bearbeitet werden. Die andere Frage lautet: Was ist mit den Konnektoren?

Gut, dann trennen wir. Welches sind die konstituierenden Bestandteile der TI 2.0?

Ein wichtiger Bestandteil sind die elektronischen Identitäten (eID), also das Verlassen beziehungsweise teilweise Verlassen der Karten. Da sind wir mit den Krankenkassen schon sehr weit, erste Ausschreibungen werden vorbereitet. Ich gehe davon aus, dass mit einem bis zwei Quartalen Verzögerung alle Versicherten eine eID bekommen. Die eID ist im Prinzip so etwas wie das Eintrittstor für neue digitale Angebote. Denn alle, die neue digitale Angebote machen, sind froh, wenn der Versicherte endlich eine Identität hat, mit der er sich überall einwählen kann. Der zweite wichtige Bestandteil ist Zero Trust, das neue Sicherheitssystem. Außerdem werden wir auch noch eine andere Verschlüsselung brauchen. Denn den Ruf vom Sachverständigenrat und von anderen nach im Versorgungskontext nutzbaren Daten können wir mit der aktuellen Technik gar nicht erfüllen. Die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung steht den meisten wirklich hilfreichen Anwendungen im Weg. Das E-Rezept müssen wir hiervon schon abgrenzen. Es ist das erste Produkt der neuen Generation. Es nutzt keine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Es kann mit Leichtigkeit in die TI 2.0 übertragen werden, weil es in einem internationalen Standard programmiert wurde, FHIR, und weil es mehr oder weniger unabhängig ist von den ganzen Elementen, die die TI 1.0 ausmachen.

Aber die Hardware-Konnektoren sind ja nun nicht TI 2.0?
Das stimmt, aber die Konnektoren sind nur ein kleiner Teil der TI, und sie spielen bei der Transformation in Richtung TI 2.0 nicht die entscheidende Rolle. Die entscheidende Frage beim Thema Konnektoren lautet: Wie sehr trauen wir den drei aktuellen Herstellern, dass sie ein Produkt mit den darauf befindlichen Zertifikaten in eine Verlängerung bringen können, die formal möglich ist? Die gematik hat den Vorschlag gemacht, dass man beides ermöglicht, also sowohl da, wo es nötig ist, den Konnektortausch in Betracht zieht, als auch da, wo es möglich ist, in die Verlängerung des bisherigen Konnektors geht. Den Gesellschaftern war das zu vage, sie waren für den sichersten Weg. Deshalb hat man sich im Gesellschafterkreis dafür entschieden, zunächst einen Beschluss zu fällen, der den Konnektoraustausch insgesamt in Deutschland vorsieht. Das wird sich jetzt über mehrere Jahre hinziehen. Nun kommen aber noch weitere Faktoren dazu. Erstens Chipmangel. Zweitens die gesamte Debatte, wie schnell wir technisch einen Ersatz für die Konnektoranbindung ermöglichen können. Das könnte schneller gehen, als einige im Moment denken. Ich persönlich glaube nicht, dass die jetzt aufgerufene, sechsstellige Zahl für zu erneuernde Konnektoren am Ende die realisierte Zahl wird. Ich glaube, dass wir in der Mitte des Weges eine andere Lösung finden werden und keineswegs in jeder deutschen Praxis noch mal ein Techniker zu Besuch kommen muss.

Mit anderen Worten: Das Konnektor-Gate hält die TI 2.0 an sich nicht auf?
Nein, es hält sie überhaupt nicht auf. Das ist ein völlig unabhängiger Strang. Wir gehen sehr stringent in die TI 2.0 rein, auch immer wieder mit Adaptionen. Natürlich wollen wir nicht heute eine Technik festzementieren, von der wir in fünf Jahren wissen, dass sie noch besser sein könnte. Wir werden auf der Reise immer das nehmen, was uns am tragfähigsten, am langfristigsten in die Zukunft bringen wird. Damit entsteht zum ersten Mal im deutschen Gesundheitswesen eine resiliente, auf internationalen Standards basierende Infrastruktur, wie wir sie aus vielen anderen europäischen Ländern kennen. Glauben Sie mir, das wird eine ungeheure Erfrischung bringen, die viele im Moment noch gar nicht ermessen. Unsere bisherige Programmierung basiert auf Sütterlin-Schrift, die es so in keinem anderen Land der Welt gibt.

Stichwort digitale Identitäten: Können wir an dem Beispiel konkret illustrieren, was die Versicherten, was die Bürger:innen von der neuen Welt haben werden?
In vielen europäischen Ländern haben die Bürger:innen nur eine einzige Identität. Schauen Sie nach Finnland, oder nach Estland. Die finnische Botschafterin sagte mir, sie gehe ein Medikament einkaufen, indem sie ihren Personalausweis auf den Tisch lege. Sie muss nichts sonst mitbringen, das Rezept liegt mit Bezug zur Personalausweis-eID auf dem Server. Deutschland konnte sich bislang nicht dafür entscheiden, dass das Zivilleben und das Gesundheitsleben eine gemeinsame digitale Identität bekommen. Da gibt es Gespräche aktuell, wir haben auch ein Auge auf diese Gespräche, aber die Einschätzung ist im Moment immer noch die aus Zeiten Otto Schilys und Ulla Schmidts, wonach wir uns in Deutschland für getrennte IDs entscheiden sollten. Daher sagt die gematik: Wir brauchen für das Gesundheitswesen eine eigene elektronische Identität, die mir als Bürger:in alle Anwendungen des Gesundheitswesens, und nur diese, eröffnen wird. Mit dieser ID kann ich dann nicht nur TI-Anwendungen nutzen, sondern die Idee ist, dass auch Patientenportale, digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA), Krankenkassenportale, Terminanwendungen usw. auf diese gesicherte Identität Bezug nehmen können. Das bedeutet natürlich auch, dass sich künftig Daten unterschiedlicher Herkunft besser zusammenführen lassen, was eine koordinierte Versorgung vereinfachen wird.

Das Thema nationale eID, Sie haben es angesprochen, ist ja auch in Deutschland wieder so ein bisschen auf den Tisch gerückt, unter anderem unter dem Stichwort „staatliche Digitalverfassung“. Sie glauben nicht, dass die durch Krankenkassen auszustellende eID des Gesundheitswesens jetzt noch mal gekippt wird zugunsten einer übergreifenden eID – und dadurch sich das ganze Thema TI 2.0 doch noch einmal um Jahre nach hinten verschiebt?
Was wir aktuell besprechen, auch im Gesundheitswesen, ist, wie viele verschiedene eID-Ausgeber wir haben wollen. Denn die müssen natürlich orchestriert werden. Ich glaube, es ist ein guter Moment für Deutschland, zu sagen, lasst uns nicht nur neue Technik machen, sondern lasst uns auch über die Verfassung dieser Technik nachdenken. Wir sehen einfach ganz klar: Die erfolgreicheren Länder haben eine relativ überschaubare eID-Infrastruktur, die nicht zu sehr fragmentiert ist. Das bringt mehr Stabilität und weniger Ausfallzeiten. Deswegen diskutieren wir gerade sehr ausführlich mit allen Beteiligten, ob es wirklich sinnvoll ist, dass 97 Krankenkassen jeweils ­eigene IDs managen oder ob wir das nicht etwas konsolidieren. Diese Diskussionen sollten wir führen, aber sie dürfen nicht dazu beitragen, dass sich die TI 2.0 verzögert. Für die Bürger:innen ist die Sache relativ klar: Je mehr wir in gemeinsame eID-Strukturen kommen, umso einfacher und umso stabiler wird es.

Auf europäischer Ebene wurde jetzt der Entwurf für die Verordnung des Europäischen Gesundheitsdatenraums (EHDS) vorgelegt. Wie wirkt der sich auf die TI 2.0, auf die gematik aus?

Ich halte die EHDS-Verordnung für eine ganz wichtige Regulierung für alle Patient:innen gerade in Deutschland. Letztlich handelt es sich um eine Interpretationshilfe für die europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Wir bekommen damit endlich ein klareres Bild über Patientenrechte, aber auch Patientenpflichten in Bezug auf Gesundheitsdaten. Patient:innen werden das Recht bekommen, E-Rezepte zu nutzen, sie werden das Recht bekommen, eine Patientenakte zu erhalten, und das alles mit klarem Bezug zur DSGVO. Das ist gerade für unser Land sehr wichtig. Man ist sich in der Brüsseler EHDS-Arbeitsgruppe, an der die gematik mit fünf Mitarbeiter:innen beteiligt ist, sehr bewusst geworden, dass durch die Übertragung der DSGVO in unterschiedliche Sprachen legalistische Interpretationen vorgenommen werden, die das Ziel, den Datenschutz zu harmonisieren, konterkarieren. Die EHDS-Verordnung macht deutlich, dass bei Gesundheitsdaten der Nutzen stärker in den Vordergrund gerückt werden muss und kein reiner Risikodiskurs geführt werden darf. Die DSGVO gibt das her.

Das heißt, die EHDS-Verordnung spielt Ihnen als gematik und gerade auch mit Blick auf die TI 2.0 in die Hände und macht es Ihnen einfacher?
Das sehe ich auf jeden Fall so. Wir glauben, dass sehr viele beherzte politische Entscheidungen, die in Deutschland getroffen werden müssen, durch diese Verordnung Wind unter die Flügel bekommen.

Das Thema elektronische Patientenakte haben Sie im Nebensatz gerade schon angesprochen. Die derzeitige ePA haben bisher nur wenige 100 000 Bürger:innen aktiviert. In den Arztpraxen spielt sie praktisch keine Rolle, obwohl die IT-Systeme seit dem vierten Quartal 2021 im Prinzip ePA-ready sind. Zu einem „Zukunftsthema“ wird die ePA dadurch, dass der Koalitionsvertrag quasi einen Systemwechsel vom derzeitigen Opt-in-Modell zu einem Opt-out-Modell vorsieht, bei dem primär jede und jeder eine ePA bekommt, von der sich aktiv abmelden muss, wer sie nicht möchte. Ist das für Sie bei der gematik schon ein Thema, oder warten Sie da auf Konkretisierungen durch die Politik?
Wir freuen uns sehr! Das ist eine mutige politische Entscheidung, und es ist die erste Opt-out-Entscheidung im deutschen Gesundheitswesen. Bei der Organspende ist ja bekanntlich gegen den Rat aller medizinischen Fachgesellschaften kein Opt-out eingeführt worden, was ein Riesenfehler war. Wichtig zu verstehen ist, dass es beim Thema Opt-out nicht um die jetzige ePA geht. Die jetzige ePA in eine Opt-out-ePA umzuwandeln, macht überhaupt keinen Sinn, denn die ist quasi um die Opt-in-Präambel herum gebaut worden. Die Opt-out-ePA hat eine ganz andere Verfassung, auch technischer Natur. Sie ist eine immense Entscheidung, und sie ist auch das, was Mitglieder des Sachverständigenrats wie Prof. Ferdinand Gerlach und Mitglieder des Corona-Expertenrats wie Prof. Heyo Kroemer zu Recht gefordert haben. Die Opt-out-ePA gibt außerdem dem anstehenden, partizipativen Prozess für eine Digitalstrategie eine ganz neue Richtung und Bedeutung.

Etwas konkreter?
Wenn wir in Richtung einer Opt-out-ePA gehen, dann bewegen wir uns auf ein Modell zu wie jenes, das in Dänemark erfolgreich ist und seit Jahren funktioniert. Das kann nicht einfach ein PDF-Kanister sein, zu dem die Bürger:innen dann halt automatisch angemeldet werden, statt sich aktiv anmelden zu müssen. Eine Opt-out-ePA braucht eine weitgehend dezentralisierte Architektur, bei der ich als Arzt bestimmte definierte Daten und Dokumente automatisch ablege und für den Zugriff freigebe. Das ist ein völlig neuer Ansatz. Wir werden dafür eine moderne Verschlüsselungstechnologie benötigen, die wir bei der aktuellen ePA nicht nutzen. Wir brauchen die eID und eine moderne, standardbasierte FHIR-Architektur mit strukturierten Daten, die von den Leistungserbringern abgegriffen werden können und die dennoch in dem Zero-Trust-System hochgradig sicher abgelegt sind. Die Opt-out-ePA ist kein Schalter, den man einfach umschaltet. Wir kommen damit weg von einer ePA, die ausschließlich als Daten-Container kopierter Dokumente gedacht wird. Das heißt aber auch, dass wir uns intensiv Gedanken machen müssen. Die Opt-out-ePA kann, bzw. eigentlich muss, der feste Anker jeder Digitalstrategie werden. Viele der Gretchenfragen, die sich bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens stellen, müssen dafür definitiv beantwortet werden, während wir diese Fragen bis jetzt oft einfach vor uns hergeschoben haben. Ich bin da auch wirklich optimistisch, denn alle drei Koalitionsparteien haben sich klar zur Opt-out-ePA bekannt. Nötig ist jetzt ein beherztes Vorgehen, damit wir in dieser Legislaturperiode spürbar vorankommen.

Von der ePA über die Digitalstrategie zur Rolle der gematik: Auch das ist ein Koalitionsvertragsthema. Dort steht, dass die gematik zu einer Digitalagentur weiterentwickelt werden soll. Wenn man sich die Kommunikation der gematik in den letzten Wochen ansieht, dann tauchen da schon Selbstbeschreibungen als die „Nationale Agentur für Digitale Medizin“ auf, die die Weichen für die Zukunft zu stellen habe. Sind Sie da nicht etwas voreilig, angesichts dessen, dass es bisher nur den Koalitionsvertrag und noch keinen konkreten Umbauauftrag gibt?

Die Bezeichnung kommt ja schon daher, dass wir in den Gremien der EU-Kommission als National Digital Health Agency angesprochen werden. Wir sitzen in Gremien, in die alle anderen EU-Länder ihre nationalen digitalen Agenturen entsenden. „Nationale Agentur für Digitale Medizin“ ist quasi unser Titel, und die Tatsache, dass Deutschland uns als solche dorthin entsendet, ist ja nun auch schon mal ein Statement. Zweitens: Das Wort gematik ist für Leute, die nicht im Thema stehen, nichtssagend. Damit können Sie nicht vernünftig kommunizieren. Wir müssen das mit Inhalt füllen. Wenn wir von Nationale Agentur für Digitale Medizin reden, dann tun wir das, um Klarheit zu schaffen. Dazu kommt, dass wir in ich glaube sechzehn Gesetzen mit ganz vielen Mandaten versehen worden sind.  Ein ganz wichtiges kam mit dem Interoperabilitäts-Council per Rechtsverordnung gerade erst noch dazu. Das ist für uns alle eine sehr gute Nachricht. Wir kümmern uns um Interoperabilität und haben eine Expertengruppe, die das endlich für uns klärt, und zwar anhand von Indikationen mit klarem Patientennutzen. Davon wird ganz Deutschland profitieren. Die Lehre aller erfolgreichen europäischen Länder ist, dass es eine solche Agentur als Kompetenzzentrum braucht. Was es nicht braucht, und das ist der Grund, warum dieser Name von manchen etwas skeptisch gesehen wird, ist eine Agentur, die alle oder auch nur die Mehrzahl der Produkte selbst baut.

Nun haben Sie mit dem elektronischen Rezept allerdings genau das gemacht. Ist das eine Ausnahme?
Klares Ja, das ist eine Ausnahme, das will ich ganz deutlich sagen. Das Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz (DVPMG) erlaubt uns, Produkte selbst zu entwickeln. Ich habe damals allen Abgeordneten gesagt, dass wir das nur dann tun würden, wenn es Anwendungen gibt, die eine staatshoheitliche Anmutung brauchen, Organspenderegister zum Beispiel oder Gewebespenderegister. Da verstehe ich die Bundesregierung, dass sie sagt, das hätten wir gerne nicht in privater Hand, da geht es um maximales Vertrauen bei den Bürger:innen. Für diese kleinen Nischen wollen wir es machen. Aber meine fundamentale Überzeugung ist, dass digitale Lebendigkeit in der deutschen Landschaft nur durch alle zusammen entsteht, durch innovative Menschen und Unternehmen. Unsere Aufgabe als gematik zukünftig wird sein, Interoperabilität zu schaffen und gemeinsame Plattformen zu ermöglichen. Wir selbst werden nur ein paar Libero-Spieler einbringen, alles andere muss im Markt entstehen. Das E-Rezept ist definitiv eher ein Singulär- als ein Regelfall.

Was bundespolitisch in Sachen digitales Gesundheitswesen ab Sommer 2022 ansteht, ist die Formulierung einer Digitalstrategie, auch das ein Koalitionsvertragsthema, Sie hatten es angesprochen. Inwiefern braucht so ein Strategieprozess eine Institutionalisierung? Und wo, wenn überhaupt, sehen Sie die Rolle der gematik in einem solchen Strategieprozess?
Die neue Leiterin der Abteilung 5 im Bundesministerium für Gesundheit hat bei der DMEA sehr deutlich gemacht, dass sie die Moderation dieses Prozesses primär in ihrem Hause sieht. Nach den bisherigen Erfahrungen in unserem System befürchte ich ein wenig, dass wir mit einem stark partizipativen Strategieprozess, an dem sich möglicherweise Dutzende Akteure (und zu Recht) beteiligen werden wollen, eine jahrelange Debatte beginnen. Deswegen schlage ich die Opt-out-ePA als einen Anker dieses Strategieprozesses vor. Denn das würde uns mit unseren Strategiediskussionen fest in der Zukunft verankern. Ein solches Vorgehen würde es uns erlauben, die nötigen Modernisierungen der TI zügig voranzutreiben, ohne Gefahr zu laufen, dass es zu weiteren Verzögerungen kommt. Und gleichzeitig gewährleisten wir damit in einem hoch partizipativen Strategieprozess eine maximale Orientierung an den Bedürfnissen von Nutzerinnen und Nutzern sowohl auf technischer als auch auf inhaltlicher Ebene.  



Das Interview führte Philipp Grätzel von Grätz, Chefredakteur E-HEALTH-COM.